Robertson Davies - Der Fünfte im Spiel

Der Roman ist die gut 400 Seiten lange Antwort des nach fünfundvierzig Jahren in den Ruhestand verab-schiedeten Lehrers Dunstan Ramsay auf einen seiner Meinung nach miesen Artikel im College Chronicle, der ihn als "typischen alten Schullehrer zeigt, der mit Tränen in den Augen und einem Tröpfchen an der Nase in den Ruhestand wankt. "

Der Artikel ist an "Geistlosigkeit" nicht zu überbieten,

er unterschlägt die Bedeutung Ramsays für die Mythen-forschung genauso wie die zehn veröffentlichten Bücher,

er stellt ihn als senilen Trottel dar, der sich nie "zur vollen Größe eines Mannes erhoben, nie gejubelt oder geklagt, Liebe oder Hass gekannt" hat.

 

Ramsay ist nicht gewillt, dies hinzunehmen, setzt sich hin und schreibt diesen wunderbaren, hinreißenden, ironischen, grundehrlichen Roman, diese Autobiographie, die er in der Ich-Form erzählt, den Leser mitnimmt nach Kanada, auf die Schlachtfelder Belgiens und Frankreichs, auf Reisen durch Europa ab den 1920er Jahren, der einen Einblick in die Heiligenforschung gibt, bzw. das, was die Heiligen für den Protestanten aus der neuen Welt bedeuten, der die Frauen in seinem Leben nicht außen vor lässt, der von der tiefen Freund- und noch ein bisschen tieferen Feindschaft zu Percy Boyd Staunton erzählt und der immensen Wirkung eines Schneeballwurfs auf die schwangere Mrs Dempster.

 

Der Autor des Buches wurde 1913 in Ontario geboren (gest. 1995 ebendort), wuchs auf dem Land auf, studierte in Toronto und Oxford Literatur, war Redakteur, später lehrte er an diversen Colleges.

Der vorliegende Roman erschien 1970 und ist ein Klassiker in Kanada. Der Autor und sein Erzähler teilen nebst einigen biographischen Details die Faszination für Mythologie und Magie - und sind mit dem Theater vertraut.

Diesem Metier entstammt auch der Titel, doch dazu später.

 

Der erste Satz des Romans lautet:

"Meine lebenslange Verbundenheit mit Mrs. Dempster begann am 27. Dezember 1908, um siebzehn Uhr achtundfünfzig, als ich gerade zehn Jahre und sieben

Monate alt war."

Dunny, wie alle ihn nennen, ist auf dem Weg nach Hause.

Um achtzehn Uhr wird gegessen, das ist eine heilige Regel,

das gibt es kein wenn und aber.

Er ist unterwegs mit Percy, der einen letzten Schneeball

nach Dunny wirft, dieser duckt sich weg, der Ball trifft die schwangere Mrs. Dempster am Hinterkopf. Sie stürzt.

Ihr Mann, Reverend Amasa Dempster, leiht sich Dunnys Schlitten, bringt seine Frau nach Hause.

Dieses Unglück entschuldigt Dunnys Verspätung.

Seine Mutter macht sich auf den Weg zu dem Dempsters,

um der zwanzigjährigen Predigerfrau beizustehen - noch

am selben Abend kommt das Baby zu Welt. Viel zu früh,

man bangt, ob es überleben wird.

 

Paul Dempster überlebt auch Dank der tatkräftigen Hilfe

Mrs Ramsays. Sie läuft zu Höchstform auf, Dunny stürzt

das Ereignis in eine tiefe Krise. Er fühlt sich schuldig, leidet ungeheuerliche "Seelenqualen".

Hätte er sich nicht geduckt, hätte der Schneeball ihn getroffen. 

Und Percy, der den Ball geworfen hat? Er leugnet jede Schuld, da er nicht mit Absicht auf Mrs. Dempster gezielt hat. 

Dieses Ringen und Leugnen um Schuld bindet die beiden Jungen lebenslang aneinander, auch wenn sie später nicht mehr von dem Geschehen sprechen.

 

Mary Dempster, schon immer von eher schlichtem Gemüt, wird nach diesem Vorfall als "nicht mehr ganz richtig im Kopf" bezeichnet. Sie ist nicht realitätstüchtig, lebt in ihrer eigenen Welt, ist auf die Hilfe anderer angewiesen.

So wird neben Mrs. Ramsay Dunny zum Dauergast im Hause Dempster, er erledigt alle möglichen Arbeiten.

 

Er verliebt sich in Mary Dempster, er entdeckt die Literatur, begeistert sich vor allem für Heiligenlegenden, Magie und Zauberei, später bringt er Paul die ersten Kartentricks bei - dies wird Auswirkungen auf Pauls gesamtes Leben haben.

 

Ein ungeheuerlicher Vorfall einige Jahre nach Pauls Geburt verändert das Leben der Dempsters grundlegend: aufgrund eines Fehltritts Marys verliert ihr Mann Amasa seine Stelle als Prediger, die Familie wird geächtet - Dunny kann sie nur noch heimlich besuchen.

 

In dieser dunklen Zeit vollbringt Mary Dempster jedoch ihr erstes Wunder - in Dunnys Augen: sie erweckt seinen toten Bruder zu neuem Leben! Diesem Wunder folgen zwei weitere - die Liebe und Verbundenheit mit Mary sind ein Quell für Dunnys späteres Interesse an Heiligenlegenden,

die er wissenschaftlich erforscht.

 

Ich will nun kurz zusammenfassen:

Dunny verlässt sein Elternhaus tief enttäuscht von seiner bestimmenden Mutter, er meldet sich freiwillig und zieht in den Krieg nach Frankreich. Er wird schwer verwundet, begegnet einer Madonna, die Marys Gesichtszüge trägt, überlebt, liegt monatelang im Koma, gilt als medizinisches Wunder als er wieder aufwacht. Ein Bein hat er verloren, doch darüber klagt er nie. Nach einer Liaison mit einer hübschen Krankenschwester kehr er nach Kanada zurück.

Er studiert Geschichte und nimmt eine Stelle als Lehrer an.

Bis zu ihrem Tod 1959 sorgt er für Mrs. Mary Dempster.

 

Seine Freundin aus Vorkriegstagen hat sich mit Percy Boyd Staunton verlobt. Dieser ändert seinen Namen zu Boy (Dunny hatte den seinen von Dunstable zu Dunstan modernisiert), das passt besser zu dem aufstrebenden Geschäftsmann.

Boy wird ein ganz großer Player in der Zuckerindustrie, er übersteht sogar die Wirtschaftskrise 1929 mit Gewinn, geht später in die Politik, aber er lässt den Kontakt zu Dunstan nicht abreißen, ein wenig auch, damit dieser daran erinnert wird, dass die schöne Leola sich für ihn und gegen Dunstan entschieden hat.

 

Die neuen Namen versinnbildlichen, dass sich die jungen Männer vom Leben als Kinder oder Nachkommen verabschiedet haben. Ein jeder verfolgt seinen eigenen Weg.

Der Dunstans führt in die Hagiologie. Er hat die fixe Idee, die "kleine Madonna" wiederzufinden, die ihm in Passchendaele begegnet war.

Er wird sie finden, an einem ganz anderen Ort. 

 

So ergeht es ihm auch mit Paul Dempster. Zum ersten Mal findet er ihn in einem Dorf in Tirol, Jahre später in Latein-amerika - aus Paul ist Magnus Eisengrimm geworden, ein aufstrebender Magier.

 

Die Leben der drei Männer sind schicksalhaft miteinander verknüpft: das des Lehrers und Wissenschaftlers mit dem

des Geschäftsmannes und Politikers, sowie dem des mit zehn Jahren davongelaufenen Paul, für den Dunstan als versierter Autor eine passende Biographie erfindet, die zu einem Verkaufsschlager wird.

 

Viele Themen werden angesprochen in diesem Roman, es tauchen die schrägsten Typen auf, wie zum Beispiel der Jesuit und "Bollandist" Pater Blazon, die merkwürdigsten Zufälle ereignen sich, in einem Punkt bleibt der Ich-Erzähler Dunstan sich treu: er blickt völlig offen und ehrlich zurück, bemüht sich, alles so zu beschreiben, wie es damals war und nicht wie es im Rückblick erscheint. Trotz all der Verluste,

die er erlebt hat, all die Schrecken, die er (nicht nur auf den Schlachtfeldern des Krieges) überstehen musste, berichtet er mit einer heiteren Ironie, er scheint gegen Bitterkeit gefeit.

Dem Leser unterbreitet er damit einen Roman, der von der ersten bis zu letzten Seite erfreulich zu lesen ist. 

Er handelt von ernsten Themen - der Ausgangs- und Bezugspunkt bleibt die Schuld Mrs. Mary Dempster gegen-über - aber Dunstan hat seine Rolle im Leben gefunden bzw. akzeptiert. Sie ist die des Fünften im Spiel.

 

Der Begriff stammt aus der europäischen Oper.

Deren feste Besetzung ist die Heldin, ein Sopran, und ihr Liebhaber, ein Tenor. Der Kontraalt ist die Rivalin des Soprans, der Bass ein Schurke oder die Bedrohung des Tenors. 

Und dann gibt es jenen Fünften, der "als Einzelner agiert, ohne andersgeschlechtlichen Widerpart." Er treibt die Handlung voran. "Seine Funktion ist nicht spektakulär, aber sie erfüllt einen wichtigen Zweck, ... und die Träger dieser Rolle machen manchmal eine Karriere, die jene der goldenen Stimmen überdauert." 

 

Der Roman handelt von Schuld, Verantwortung, Vergessen und Erinnern.

"Wir alle vergessen viel von dem, was wir getan haben, besonders, wenn es nicht zu der Persönlichkeit passt, die wir für uns ausgewählt haben." 

 

Am Ende des Romans, Dunstan, Boy und Magnus reden

zum ersten Mal alle drei miteinander, enthüllt Dunstan ein Geheimnis. Zu einem solchen ist es geworden, weil Boy diesen Punkt verdrängt hatte, nun wird er sich daran verschlucken, im ganz konkreten Sinne des Wortes. 

 

Und ganz am Ende folgt Dunstan einem Ruf in die Schweiz.

Dort erwartet ihn Liesl. "Sie und Blazon waren die einzigen Menschen in meinem Bekanntenkreis, mit denen man eine

Konversation genau an jenem Punkt fortsetzen konnte, an dem man sie unterbrochen hatte, egal, ob am Vortag oder vor sechs Jahren." Wohl dem, der solche Gesprächspartner hat!

 

Von dort aus schickt er seinen Bericht an den Schulleiter:

"Und dies, Herr Direktor, ist alles, was ich Ihnen zu berichten habe."

Das ist ein wunderbarer Kunstgriff, denn mit der direkten Anrede des Schulleiters spricht Dunstan Ramsay, der Lehrer, Historiker, Heiligen- und Legendenforscher und Verfasser der fiktiven Lebensgeschichte Eisengrimms, auch seine Leser immer wieder an und nimmt sie immer tiefer mit hinein in seine wahrlich abenteuerliche Autobiographie. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Robertson Davies: Der Fünfte im Spiel

Übersetzt von Maria Seifert

Dörlemann Verlag, 2019, 416 Seiten

(Originalausgabe 1970)