Gerdt Fehrle - Wie Großvater den Krieg verlor

Die Geschichte, die dem Buch seinen Titel gegeben hat, ist eine von sehr vielen in diesem Roman.

Er ist eine weit verzweigte Familien-geschichte und zugleich eine Soziographie des letzten Jahrhunderts bis in die sechziger Jahre hinein.

Der Erzähler ist ein "Knabe", geboren Anfang eben jener Sechziger, als der Krieg zugleich schon weit weg und doch noch ganz nah da war.

 

So nah, wie die beiden Großväter dem Knaben, die mit ihren Geschichten dessen Blick auf die Welt formten und ihm einen großen Schatz hinterließen. Diesen hat Gerdt Fehrle, 1961 in Stuttgart geboren, zu einem Roman verflochten.

 

In der Stuttgarter Gegend spielt der Roman.

Die Eltern der Mutter Ita leben in Untergruppenbach bei Heilbronn. Sie heißen Otto und Gertrud, genannt Paddi und Ihle. Itas Brüder Dolf und Uland kommen nur am Rande vor, der Knabe orientiert sich an den Großeltern.

Die Eltern des Vaters leben in Echterdingen (dort, wo sich heute der Flughafen immer weiter ausdehnt). Auch diese beiden heißen Otto und Gertrud, was beim Lesen immer wieder etwas Verwirrung stiftet. Wohl für den Knaben schon, deshalb wurden den beiden Ottos einfach deren Geburtsjahre als eine Art Erkennungszeichen angehängt.

 

Der Untergruppenbacher Großvater ist Otto Elf.

Er ist promovierter Chemiker, forscht fleißig unter den Nazis, ohne diese Ideologie streng zu teilen. Um sich dagegen zu wehren, ist er zu schwach. Ein Schwächling ist er vor allem in den Augen seiner Frau. Otto Elf schafft es nach dem Krieg nicht, eine ordentliche Karriere in der Wissenschaft oder Industrie hinzulegen. Wie so viele andere, die auch gut durch die braunen Jahre gekommen waren, sich hinterher aber sehr schnell umorientierten.

Otto Elf spricht schon am Vormittag dem Whisky zu, ab vier am Nachmittag ist er kaum mehr ansprechbar.

Er ertränkt seine nicht erfüllten Hoffnungen, die vor allem die baden gegangenen Träume seiner Frau Ihle sind.

Sie ist streng und ruppig geworden mit den Jahren, von harmonischem Eheleben kann nicht die Rede sein.

 

Umso mehr freut sich Otto Elf über den Knaben, dem er von vergangenen Zeiten berichten kann. Auch Gertrud erzählt manchmal eine Geschichte, oft mit gesenkter Stimme, manchmal leicht errötend.

 

Der andere Großvater ist Otto Nullacht. Er ist gelernter Schosser, ein sozialdemokratischer Arbeiter, wie er im Buche steht. Nie hat er seine Gesinnung verborgen, oft musste seine Gertrud ihn zur Ruhe ermahnen. Doch es ist gut gegangen. Er wurde spät noch eingezogen, erlebte das Kriegsende in Gdingen, bekam zum Glück keinen Platz mehr auf der Gustloff, sondern fuhr mit der Hipper nach Flensburg.

Dort warteten schon die "Tommys" auf all die Flüchtlinge.

Das Eiserne Kreuz baumelte noch an der Uniform Ottos.

 

"...der Unteroffizier lachte, fuchtelte weiter mit der Pistole herum und sagte immer wieder etwas auf Englisch, bis der Großvater endlich kapierte: Der will das Ding, dieses blöde Ding."

"Ond soo hanne da Griag vrlaora", sagte der Großvater lachend..."

 

Die direkte Rede aller Großeltern ist immer im schwäbischen Dialekt geschrieben.

In der Regel schließt sich dem eine inhaltliche Wiedergabe in Hochdeutsch an, so dass es auch für Nicht-Schwaben kein Problem sein dürfte, zu verstehen, was gesagt wird.

 

Bald nach Kriegsende kommt Otto Nullacht also zurück nach Echterdingen, wo Gertrude mit den drei Kindern alleine zurecht kommen musste.

Mit dem behinderten Ottl, den sie wie eine Löwin verteidigt, als er abgeholt werden soll. Mit ihrem Mittleren, Heinrich, der mit seinen nicht einmal zehn Jahren so etwas wie der Ersatz-Mann ist, jedenfalls muss er immer den Ottl in den Keller schleppen, so lange, bis er sich einfach davon macht und sich von der mütterlichen Autorität entfernt.

Und dann ist da noch der kleine Herbert, der 1948 an Diphterie stirbt.

Ganz selbstverständlich übernimmt Otto nach seiner Rückkehr wieder das Ruder.

 

Der Roman besteht aus vielen vielen kleinen Geschichten, die Überschriften tragen wie "Die Geschichte vom Eintritt Ottos in das Geschehen des Zweiten Weltkriegs",

"Die Geschichte vom Zeppelinstein", "Die Geschichte, wie

Ihle und Paddi zu ihren Namen kamen", "Die Geschichte vom einzigen Schuss", "Die Geschichte von den drei Schwestern", die eine kleine Reihe über Geschichten vom Sterben einläutet, "Die Geschichte vom fehlenden Polenmädchen", "Die Geschichte vom Soldatenklau" oder "Die Geschichte vom kobaltblauen Fahrrad", die den Einmarsch der Franzosen nach Degerloch beschreibt, aus der Sicht Heinrichs, der den letzten Aufrechten des Volkssturms nachgeschlichen ist.

 

Aus diesen und noch vielen weiteren Puzzleteilen setzt

sich der Roman zusammen, der ein umfassendes Bild über diejenigen im Krieg, die zu Hause Überlebenden, die Rückkehr und die Nachkriegszeit, über die Gefühle und Ängste des Knaben, über das Schöntrinken, über kaputte Ehen, über die Ausbrüche einzelner Familienmitglieder in den Sechzigern (gerne finanziert von der konservativen Mutter und ihrem heimlichen Sparbuch), über die Karrieren vor, während und nach dem Krieg, und darüber, wie lange der Krieg in den Köpfen weiterging.

 

Authentisch, fesselnd, und trotz vieler verschiedener Facetten einer sich nicht verzettelnden Erzählweise, gelingt Fehrle ein sehr lebendiger Roman, der nah heranführt an diese, vermutlich seine, Familie.

Die mündliche Tradition des Geschichten-Erzählens führt er fort in der Verschriftlichung und Gestaltung des Materials, das er als Familienerbe bekommen hat.

Er gestaltet daraus einen Roman, der tragisch, an vielen Stellen komisch und durchgängig vielschichtig ist.

Er ist kein Denkmal geworden, dieser Roman, denn dieser hat nichts Statisches. Die Geschichten fließen ineinander über, verweben sich, ergänzen sich.

 

Das Ende ist dem Knaben gewidmet, der entdeckt, dass es noch etwas Süßeres gibt als Schokolade. Er verliebt sich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gerdt Fehrle: Wie Großvater den Krieg verlor

Louisoder Verlag, 2017, 356 Seiten