Mireille Gagné - Häsin in der Grube

"Um mit ihrem Leistungszwang klarzukommen und um wertvolle Sekunden zu gewinnen zählt Diane pausenlos die Schritte zwischen ihrer Wohnung und ihrem Bürogebäude die Stufen zwischen den jeweiligen Etagen die Sekunden zwischen ihrem Büro und dem der Frau die sie nicht ausstehen kann ... aber das Unglück ist unzählbar"

 

Atemlos, ohne Interpunktion, wird die Lage Dianes geschildert. Anfang dreißig ist sie, fleißige Biene in einer Firma, in der nichts als Erfolg zählt. Sie arbeitet an sieben Tagen die Woche, danach geht sie ins Fitness-Studio, ihre Eltern hat sie seit fünfzehn Jahren nicht gesehen. Freunde? Natürlich keine. Das Apartment? Ganz in weiß, eingerichtet von einer Innenarchitektin. Die neue Kollegin? Unerträglich effizient, erfolgreich, charmant dazu und sogar hilfsbereit. 

 

Da entschließt sich Diane zu einem unumkehrbaren Schritt, der ihr unumgänglich erscheint: sie lässt sich ein Hasen-Genom implantieren. 

Weniger Schlaf, bessere Konzentration, schnelleres Arbeiten, sind die positiven Auswirkungen, die solch eine Operation verspricht. Die Nebenwirkungen wie Schwindel, Panik oder Herzrasen werden vergehen, sagen die Ärzte.

 

Sehr schwer zu ertragen sind die Tage nach dem Eingriff.

An diesen soll Diane sich vollständig zurückziehen und ausruhen, damit der Körper sich an die neue Situation anpassen kann. 

"Was könnte sie in der verordneten Wartezeit machen? Keine Ahnung. Müßiggang ist für sie ein Fremdwort."

 

Es ist offensichtlich, dass der Debütroman der kanadischen Autorin Mireille Gagné, geb. 1982 auf der Isle-aux-Grues im Sankt-Lorenz-Strom, eine Parabel auf die moderne Arbeits-welt und ihre kaum zu erfüllenden Anforderungen ist.

 

Aber er ist noch mehr. Klug aus vier Strängen komponiert,

ist er eine moderne Variante einer alten Sage der Algonkin, Ureinwohner Kanadas. In dieser kommt die Figur des Nanabozo vor, die "vom Großen Geist Manitu auf die Erde geschickt" wird. Häufig nimmt er die "Gestalt eines Hasen" an und erscheint jenen, "die sich verirrt haben".

 

Die vier Erzählstränge bestehen aus den Kapiteln, die sich dem Scheeschuhhasen widmen, sie scheinen einem Lexikon entnommen, liefern Informationen über Lebensweise, Habitat etc. 

Dann gibt es jene, die sich der Teenagerzeit Dianes widmen. Sie spielen auf einer Insel nordöstlich von Montréal, wo auch jenes Eiland liegt, auf dem die Autorin aufwuchs.

Sie sind in der Ich-Form geschrieben und erzählen von der Begegnung mit Eugène, einem Jungen, der mit sechzehn auf die Insel kam. Er hatte eine ganz besondere Beziehung zur Natur, befreite einst einen Hasen aus den Klauen eines Königsadlers, legte gefährliche Wege durch die Strömung des Flusses zurück und verschwand eines Tages spurlos.

Eine Hasenpfote spielt in dieser Freundschaft eine wichtige Rolle, wie in der alten Sage gilt sie hier als Glücksbringer.

 

Zwei Stränge, die von außen auf die Heldin blicken sind mit "Tag X -" bzw. "Tag X +" bezeichnet. Vor und nach der Operation, diese ist die Zeitenwende in Dianes Leben.

Hier bricht sich die Häsin Bahn, die neuen roten Haare, die veränderten Augen, ihre erstaunliche Wirkung auf Männer, sind nur die äußeren Anzeichen ihrer Verwandlung.

 

Die verschiedenen Erzählweisen und Perspektiven machen den Roman sehr vielfältig. Sie zeigen die junge Frau, ihr Leben auf der Insel. Zart angedeutet die Verliebtheit in Eugène, dramatisch sein Verschwinden.

Dann die Arbeitswelt in der anonymen Stadt, der unbedingte Anpassungswille Dianes, ihr Straucheln.

Das märchenhafte Ende nimmt den Duktus der alten Sage auf, führt die Stränge zusammen und gibt Anlass zur Hoffnung.

Und verweist ganz unmissverständlich darauf, dass der Müßiggang ein Teil des Lebens sein sollte, wie auch die Verbundenheit mit der Natur.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mireille Gagné: Häsin in der Grube

Aus dem kanadischen Französisch von Birgit Leib

Klaus Wagenbach Verlag, 2021, 120 Seiten

(Originalausgabe 2020)