Steffen Herbold (Text) & Martin Burkhardt (Illustration) -

Die stramme Helene

Mit der Frommen Helene Wilhelm Buschs hat Die stramme Helene nichts gemein. Zwar hat auch Herbolds Figur ein reales Vorbild, nämlich seine Großtante, doch hier geht es nicht um Bigotterie und die Sorgen des Großbürgertums.

Die stramme Helene lebt mit ihrem Ehemann in sehr bescheidenen Arbeiterverhältnissen der 1960er Jahre, noch vor dem Umbruch am Ende dieses Jahrzehnts. Die triste und damals sehr beliebte Zimmerpflanze, die das Fenster ziert, steht sinnbildlich für ein wenig blumiges Leben. Sansevierie heißt sie, "Trostlosie" nennt Helene sie.

 

Ich muss zugeben, dass das Büchlein keine Liebe auf den ersten Blick bei mir entfacht hat - erst beim zweiten Lesen und eingehenden Betrachten der Illustrationen entfaltete sich für mich die Tiefe der Geschichte.

 

Man lernt Helene kennen, als sie auf ihrem Fahrrad durch eine düstere Straße fährt. Der Himmel ist schmutzig-grau, ein einbeiniger Mann humpelt an Krücken über den Gehweg. In Helenes Fahrradkorb sitzt ein schwarzer Hund, ihr Blick ist starr auf den Boden geheftet, das weiße Haar flattert nicht, es ist streng nach hinten gekämmt, die Brille macht ihr Gesicht strenger als es sein könnte.

Einziger Farbklecks auf dem folgenden Bild, das sie von hinten zeigt: ein Kopfsalat.

 

Den hätte sie nicht kaufen dürfen, sie versteckt ihn gleich auf dem Balkon. Würde ihr Mann ihn entdecken, bekäme er einen Wutanfall ob dieser Verschwendung.

Paart sich der Ärger über so etwas mit einer Wut, die er grundsätzlich in sich trägt, kann es sein, dass er zuschlägt.

 

Er ist alkoholkrank, "seine Gewalt wohnt in seiner Sprachlosigkeit." Er kann nicht artikulieren, woran er leidet.

Beide haben sie eine Diktatur und einen Krieg erlebt, "ihr Zweiter Weltkrieg hat nie aufgehört. Die Luftangriffe sind vorbei, seitdem ist es ein Stellungskrieg in einer Zwei-zimmerwohnung."

 

Ihr Arzt hat Helene ein Medikament gegeben, das soll ihren Mann vom Trinken abhalten. Sie mischt es ihm unter die Leberwurst. Wahrscheinlich haben ihr diese Tabletten das Leben gerettet, aber für eine wirkliche Wende reichen sie nicht. Dafür müssen ein Schutzengel und eine ordentliche Portion Glück Hand in Hand arbeiten.

Was dann auch geschieht.

 

Helene, die es verstand, sich ein winziges Stückchen Vergnügen zu erschleichen (in Form des Salats), die für einen kleinen Moment meint, "der jüngste Tag" sei angebrochen und "sich nun alles ändern könnte" als ein großer Clown plötzlich zum Fenster hereinschaut - es ist die Kulisse eines Jahrmarktsgeschäfts, das vorbei transportiert wird -, die sich an eine einzige schöne Zeit in ihrem Leben erinnert, an einen Urlaub im Schwarzwald, in dem sie Pfirsich Melba genossen hat und ihre Sonnenbrille wegen der Sonne trug und nicht wegen der Veilchen, diese Helene hilft dem Schicksal etwas nach, indem sie in einem bestimmten Moment (der letzten Szene des Buches) zuschaut.

Und nicht handelt.

Dadurch entkommt sie ihrem Leben, das einer Hölle gleicht.

 

Text und Illustrationen bilden die Atmosphäre der Mitt-sechziger ganz genau ab.

Von der Architektur, der Wohnungseinrichtung, der Kleidung, der Speisen, Getränke und eingekauften Dinge,

der Zeitschriften, die sie liest, bis hin zur Zerstörung der Menschen durch den Krieg.

 

Und, ganz wichtig: der Hoffnung, die noch nicht gestorben ist. Hier symbolisiert durch eine Raupe, die sich in quasi jedem Salat findet. Dass sie die immer isst, ist Helenes Geheimnis. "Vielleicht hofft sie, ein Schmetterling zu werden."

 

Im Nachwort schreibt der Autor, wie wichtig es ist, die vergangene Zeit in Geschichten aufzuheben. 

Das 20. Jahrhundert sollte nicht zu einer Fußnote, zu Schul-buchstoff werden, es sollte in der Erinnerung weiterleben, denn auf diesem Jahrhundert beruht das 21. Unser Heute.

Die Art, so zu erzählen, dass es "beispielhaft sein und über sich selbst hinausweisen" kann, sollte nicht abgelegt und vergessen werden, denn nur sie erschafft ein "plausibles Ganzes" aus verschiedenen Blickwinkeln, Sichtweisen und Erinnerungen. 

Dieses über-sich-selbst-Hinausweisende ist ihm mit der strammen Helene gelungen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Steffen Herbold (Text) & Martin Burkhardt (Illustration):

Die stramme Helene

Kunstanstifter Verlag, 2018, 40 Seiten