Ralph Roger Glöckler - Der König in seinem Käfig

Von Macht und Selbstermächtigung, von Unterdrückung, Revolte, Träumen und ihrer Deutung erzählt dieser Roman, dessen Heldin Anna ist. Sie wurde im Haus ihres Onkels groß, der Präsident nahm sie nach dem Tod ihrer Eltern zu sich. Dass dies nicht stimmt, dass sie ein geraubtes Kind ist, erfährt Anna erst mit über dreißig, wie so vieles andere.

 

Der Roman beginnt mit einem Abendessen. Anna und ihr Ehemann Maxim haben Gäste: Olaf und Mirko, Partner und Kollegen Maxims. Man unterhält sich in Andeutungen über zwielichtige "finanzielle Transaktionen ... bevor internatio-nale Sanktionen griffen, nachdem das Militär fremdes Territorium erobert hatte". Auf neben den Tellern liegenden 

Tablets laufen "Bilder von Demonstrationen, Transparenten, wehenden Fahnen. Aufsässige oder der Apparat? Die Nation vor einer Zerreißprobe."

 

Mit dieser Eingangsszene sind Szenerie und Thema umrissen: Diktatur, der sich ankündigende Aufstand und dessen Niederschlagung, die Herren "Rechtsverdreher", die ihr eigenes Süppchen kochen, dazwischen Anna, die schöne Stieftochter des Diktators, nach der sich die Herren verzehren.

 

In Anlehnung an die biblische Geschichte der "Susanna im Bade" wird Anna von den beiden Kollegen Maxims verleumdet - aus Rache, dass sie sich ihnen nicht hingegeben hat. Die private Krise, die dies auslöst, wirft auch ein helles Licht auf die politische Situation.

 

Eine weitere Figur mit biblischem Anklang ist Daniel.

Er taucht nicht in Person auf, er schickt Anna Mails oder Sprachnachrichten, ohne ihn zu kennen, vertraut sie ihm.

Wie der Prophet deutet Daniel die Träume des Präsidenten, auch er verkündet das Ende seines Reiches.

 

Annas Leben ist kein selbst gewähltes. In die Ehe mit Maxim wurde sie vor zehn Jahren, noch vor Beendigung ihres Studiums, gezwungen, ihren Sohn Boris liebt sie, aber ein wirklich enges Verhältnis entwickelt sie nicht zu ihm. Der Luxus um sie herum erschien ihr immer selbstverständlich.

Und doch: Will sie weiter so leben? Wer ist sie überhaupt?

 

"Wer, Anna, fragte sie sich, bist du? Die Frau aus dem Nichts. Wer waren ihre Erzeuger, Tante und Onkel, andere und wenn ja, wo waren sie abgeblieben? Eingesperrt, ermordet, ausgewiesen? War sie verkauft und gegen Geld und gute Versprechen in diese Mördergrube gestoßen worden? Wie konnte es sein, von Verbrechern gehegt, gepflegt, mehr noch, geliebt worden zu sein, sich arglos bei ihnen daheim und getragen gefühlt zu haben?"

 

Anna wird die Wahrheit über ihre Herkunft erfahren, sie erfährt auch die Wahrheit über das Land, in dem sie lebt.

Der Brief einer Tante, die Botschaften Daniels und eine ihr zugespielte DVD öffnen ihr die Augen, die Frage ist: Wie soll sie sich zu all dem verhalten?

 

Den inneren Konflikt Annas stellt Ralph Roger Glöckler schlüssig dar, noch tiefer dringt er in das Wesen einer Diktatur ein. Die Namen der Figuren deuten einen osteuro-päischen Raum an, die Zeit ist die Gegenwart, doch es geht um die Diktatur an sich, die überall und zu jeder Zeit auf die gleiche Weise funktioniert. 

Die Mechanismen der Machterhaltung mit all ihren Facetten, die Verfolgung der Gegner mit Terror und Folter, das System der treuen Gefolgsleute, die bereit sind, alles zu tun, um ihre Privilegien nicht zu verlieren, und auch die Visionen oder Halluzinationen des Präsidenten schildert der Autor detailliert, sprach- und bildgewaltig. 

 

Ein Pfeiler der Diktatur ist die Propaganda:

"Sie kannte die Argumente, mit denen die Demonstranten in Schach gehalten wurden, aber die Slogans der Propaganda, Wort- und Satzpatronen, die, schaltete sie die Medien ein, rund um die Uhr verschossen wurden, wiederholten sich in ihren Gedanken, zündeten auf ihrer Zunge, um die Sprache zu zerstören, mit der sie fähig gewesen wäre, auszudrücken, was sie wahrhaftig empfand, so als dürfte es für Zweifel, Empörung, für ihren Gerechtigkeitssinn weder Alphabet noch Stimme geben." 

 

Die Parolen bohren sich in die Köpfe, rauben die eigene Urteilsfähigkeit. Nur langsam kehrt diese bei Anna zurück, bzw. entwickelt sich überhaupt erst.

 

Die Worte Daniels klingen wie ein frommer Wunsch:

"...dein Reich, Herr, wird zerfallen und aufgeteilt werden wie jenes, das auf dich gekommen ist, denn du hast, das wollen die Zeichen bedeuten, wie dein Vorgänger gehandelt, Feinde gejagt, gefoltert, ermordet, ihre Familien verhaftet, in Arbeitslager gesperrt, wo sie vor Erschöpfung starben. Warum, Herr, warum? Du weißt es und gibst es nicht zu:

weil dich Worte ängstigen, die du nicht verstehst, freie, unabhängige, unzensierte Worte, und du allein über Leben und Tod entscheiden willst, aber du hast dich überhoben, die Wahrheit ist stärker und wird dich vernichten."

 

Nicht zuletzt die für Ralph Roger Glöckler so typischen langen, rhythmischen Sätze erzeugen den Sog des Romans. Man spinnt sich ein in die Gedankenwelt Daniels und Annas, sieht die Szenen plastisch vor Augen, hört die dröhnenden Ereignisse. Und schöpft doch zarte Hoffnung.

 

Die den Roman beschließenden Passagen, die Anna und Boris vor diversen Volieren, sowie Annas Tagebücher und einen Brief an Daniel zeigen, leuchten noch einmal in die Tiefen der Ungewissheit. Eingesperrte Vögel, Zweifel, Fragen und dann eine Anna, die "plötzlich unterwegs" ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ralph Roger Glöckler: Der König in seinem Käfig

Kulturmaschinen Verlag, 2023, 170 Seiten