Dincer Gücyeter - Unser Deutschlandmärchen

"Es war ein neuer Abschied. Das ist vielleicht die Tragödie in dieser Geschichte, dir näherkommen und doch immer wieder Abschied nehmen zu wollen. Ein Widerspruch, den ich gerade beim Schreiben immer wieder empfinde. Nichts soll mehr bei mir bleiben, keine Erinnerung, nichts! Und doch suche ich den Geruch, die Gesichter, deine Stimme aus einer Zeit, die schon längst nicht mehr existiert. Vielleicht gab es das alles gar nicht, vielleicht ist alles nur von mir erfunden, vielleicht nehme ich das alles aus dem Nichts und schreibe es auf Wasser auf, auch das hier wird nicht bleiben."

 

Diese Gedanken Dincers, einer der beiden Ich-Erzähler, finden sich in dem Abschnitt "Ich war doch dein Prinz, oder?". Die zweifelnde Frage richtet sich an seine Mutter Fatma, sie ist die zweite Stimme dieses Romans, der ein Zwiegespräch zwischen Sohn und Mutter ist. In dieses Gespräch werden Lieder, Gedichte, Briefe, Chöre, Theater-szenen, Anrufungen, Litaneien, Gebete und Anklagen eingewoben, der Roman ist außerordentlich vielfältig-vielstimmig. Der Autor und Erzähler sucht die richtigen Worte für Erlebnisse und Erfahrungen, bleibt dabei dem Schreiben gegenüber stets unsicher, vorsichtig, überlegend, thematisiert immer wieder das Ringen um eine eigene Stimme, eigene Sprache. 

 

Der Roman beginnt mit einer Erzählung Hanifes, der Mutter Fatmas, Großmutter Dincers. Sie spricht von ihrer Mutter, fügt ihre Geschichte ein in die der Frauen, die von Männern bevormundet, bewacht, geschunden werden, weniger wert sind als ein Arbeitstier. 

 

Dieser Auftakt führt in das uralte Thema ein und setzt den Ton. Es geht um die Vorherrschaft der Männer, das schweigsame Dulden der Frauen, um das Leben in der Fremde, denn Hanifes Mutter war eine Nomadin und damit ohne Rechte.

 

Fatma kam als junge Frau im Jahr 1965 nach Deutschland.

Ein ihr bis dahin unbekannter Mann hat sie geholt, Yilmaz. Bald ziehen sie in ein Dorf an der niederländischen Grenze. Yilmaz arbeitet in einer Gießerei, Fatma fängt in einer Schuhfabrik an, nimmt noch einen zweiten Job an.

Arbeiten, arbeiten, arbeiten: davon war und bleibt Fatmas Leben bestimmt. Bis 1979 muss sie auf ihr erstes Kind warten, was nicht bedeutet, dass sie sich nun ausschließlich um ihren Sohn kümmern wird. Denn Yilmaz hat seine Arbeit schon lange aufgegeben und eine Kneipe eröffnet.

Er häuft Schulden an, Fatma verdient das Geld.

 

Im Alter von acht Jahren fängt Dincer an, Geld hinzu zu ver-dienen. Er sieht die Schwierigkeiten seiner Mutter, er meint, nun alt genug zu sein, um sie zu unterstützen.

 

Ebenfalls mit acht Jahren schreibt Dincer sein erstes Gedicht.

Je älter er wird, desto deutlicher wird der Zwiespalt zwischen seinen Wünschen - er liest und schreibt, möchte Theater spielen - und den Erwartungen, die an ihn gestellt werden.

Er soll seine Ausbildung zum Werkzeugmacher bloß nicht abbrechen, er soll sparen, ein richtiger Mann werden, nicht die "Schwuchtel auf der Bühne."

Dieser Zwiespalt ist nicht der einzige, in dem Dincer steckt: wo ist seine Heimat? Deutschland ist es nicht, die Türkei ist es nicht. Von Gastarbeitern wird erwartet, dass sie funktio-nieren, sprich, dort arbeiten, wo sie gerade gebraucht werden. Und dann, wie Gäste eben, eines Tages wieder gehen. Wozu Integration? Was bedeutet dieser Begriff überhaupt?

Welche Sprache ist seine Sprache?

 

"Unser Deutschlandmärchen" ist ein durch und durch poetisches Buch. Es ist der erste Roman des Lyrikers Dincer Gücyeter, für mich ist es das erste Mal, dass ich einen Roman gelesen habe, der eine türkische Einwanderin in den Mittel-punkt stellt und ihr eine eigene Stimme verleiht. 

"Alle haben mir erklärt, was ich zu machen habe, alle haben das Recht, zu bestimmen, für sich beansprucht. Niemand wollte wissen, wie es mir, wie es uns ging." 

 

Nun wendet sich der Sohn der Mutter zu und fordert sie auf, zu sprechen.

"Du hast deine Sehnsüchte immer in Schweigen gehüllt, hast gedacht, so könnte dich niemand durchschauen, niemand verletzen. Du siehst, nach Jahren versucht dein Sohn, aus deinem Schweigen Literatur zu machen, grübelt, wütet, sucht, verliert..."

 

In ihre Geschichte mischt sich seine Geschichte. Kindheit und Jugend, aufwachsen mit zwei Sprachen, sehr früh Verantwortung übernehmen, überall gegängelt werden.

Die Ausbildung unter Männern, erstaunlicherweise schätzen die ehemaligen Kollegen später die Gedichte Gücyeters.

Er beschreibt seine ersten Schritte am Theater, die Reisen nach Anatolien, seine Trips nach Istanbul, seine unermüd-liche "Suche nach der eigenen, einfachen Sprache", einem eigenen Leben.

 

"Ich wollte in meinem Leben mehr als die Geschichte des guten Sohnes. Eine eigene, meine Geschichte schreiben."

 

Es ist ihm gelungen, diese eigene Geschichte. Darüber hinaus lese ich darin aber auch die Geschichte von sogenannten Gastarbeiterinnen, die in den sechziger Jahren nach Deutschland kamen, sich der Verantwortung stellten und ohne jemals darüber zu sprechen oder gar zu schreiben ihre Familien am Leben und die deutsche Wirtschaft am Laufen hielten.

 

Die letzten Worte des Märchens gehören Fatma:

"Wenn ihr mir erlaubt, will ich euch einen kleinen Rat geben. Wir haben blind danach gestrebt, den Schmerz der Entwurzelung mit Eigentum, mit Geld zu heilen, vergebens ... Ihr sollt besser leben, freier, ohne Ängste. Jede Last, jeder Schmerz ist vergänglich, traut euch, habt keine Angst vor dem Leben. ..."

 

Für diesen außergewöhnlichen Roman erhielt Dincer Gücyeter 2023 den Preis der Leipziger Buchmesse, im Jahr zuvor bekam er den Peter-Huchel-Preis für seinen Lyrikband "Mein Prinz, ich bin das Ghetto". 

Auch in diesen Gedichten verschmilzt das lyrische Ich mit dem Ich des Autors, der seine Flügel zwischen Anatolien und dem Rheinland aufspannt, der sagt, "Ich bin ein deutscher Dichter (Bastard) mit Migrationshintergrund...", der aus den Gegensätzen eine Quelle der Phantasie macht.

 

Sein Roman führt in eine verborgene Welt, die doch vor aller Augen lag, liegt. Er zeigt eine starke Frau, die, wie er selbst, mit Widersprüchen zurecht kommen muss, die sich in einem Leben zwischen mehreren Kulturen überscharf zeigen. 

Dass sie sich nicht auflösen, in der Sprache aber fassen lassen, führt der Roman, führt der intensive Dialog vor. 

 

Ganz große Empfehlung!

 

 

 

 

 

 

 

 

Dincer Gücyeter: Unser Deutschlandmärchen

mikrotext 2022, 216 Seiten