Kathrin Niemela - wenn ich asche bin, lerne ich kanji

Gedichte

Kathrin Niemela ist eine Reisende.

Physisch, sprachlich, literarisch.

Sie reist durch die Welt, nimmt die LeserInnen mit nach Südamerika, Asien, Paris und Ostpreußen.

Sie erschafft sich ihre eigenen Wörter, ihre eigene Sprache. Und sie trifft hier und da auf die Großen der Poesie: Honoré de Balzac, Pablo Neruda, Rainer Maria Rilke, Paul Celan und weitere.

 

Gute Inspirationsquellen, wenn man Grenzen überwinden möchte, Tiefen ausloten, Verbindungen herstellen, wenn

man über Paris und die Liebe schreibt, die Vergänglichkeit und das Scheitern. Dabei sind die Gedichte nicht traurig oder melancholisch, sie sind auf eine bestechende Weise realistisch, ganz wörtlich in der Realität verankert, durch Melodie und Rhythmus, Wortschöpfungen und über-raschende Wendungen aber ganz neue Felder betretend.

 

Das Geleitwort ist Walter Benjamin entlehnt:

"in den falten erst sitzt das eigentliche". In den Falten stößt man auf Vergessenes und Verborgenes. Dieses in der Poesie wieder sichtbar zu machen, es zu verstehen, jenseits linearer Logik, dies hat sich die 1973 in Regensburg, heute dort oder in Paris oder überall lebende Dichterin zur Aufgabe gemacht.

 

In dem 2021 sofort nach Erscheinen des Debütbandes mit dem Irseer Pegasus ausgezeichnete Zyklus die süße unterm marmeladenschimmel, dem Auftakt des aus fünf Kapiteln (die man vielleicht besser Räume nennen sollte) bestehenden Buches, erzählt Kathrin Niemela vom Beginn und Scheitern einer Liebe. Die Zeit ist ein wichtiges Element:

 

"da haben wir den

moment aus dem eis geholt"

 

heißt es am Anfang, bald schon:

 

"als es vorbei war,

die nächte wiederkamen"

 

Es stellt sich die tödliche Routine ein, die Abgrenzung:

 

"(wir) ... erwarteten kastanien und

dass was zusammenkam, das konsequenzen hat

 

etwas klares mit nichtblauäugigkeit und häutigkeiten,

abrufbar im wohnzimmerglanz, monumental,

so schienen wir, jeder mit sich selbst bewaffnet"

 

Die "familie" wird zur "verwaltungseinheit", schließlich wird Geschirr und Hund verteilt, in einem Rilke-Zitat treffen Vergangenheit und Zukunft noch einmal aufeinander, der Zyklus endet trotz allem hoffnungsvoll:

 

"gewiss fliegen die vögel

auch in diesem jahr nach süden -

ich überherbste in krumen"

 

überherbsten ist ein heute völlig ungebräuchliches Wort,

neu die Wendung "du brichst den goldenen schritt" als eine Bezeichnung für mäanderndes Gehen durch Paris, Verdrehungen wie "ein leben hat hier sieben katzen", Zusammenziehungen wie "kälte greift, nadelt durch haut und jacken" oder "die uhr ein leben lang aufs nächste schieben" destillieren einen menschlichen Zustand des Seins heraus, kurz, prägnant, ohne Umschweife und sehr treffend.

 

Kathrin Niemela geht auch auf gesellschaftliche und historische Themen ein. Zum Beispiel die Terroranschläge in Paris, die Digitalisierung, einen ganzen Zyklus widmet sie ihren Wurzeln, die sie in ihrer aus Ostpreußen stammenden Familie verortet. 

 

Im Kapitel kuckuckswunden sucht sie nach den Großeltern:

 

"die fehlenden wurzeln laufen hier zusammen"

 

Der Ort ist Gelegenheit über Kant und den kategorischen Imperativ nachzudenken, Niemela zieht ihre eigenen Schlüsse:

 

"selbstverschuldet ist diese unmündigkeit, am zentralplatz

macht sich das luftschloss breit, immerzu ahnen und die

einsicht, dass die wurzel von allem nicht im mangel des

verstandes, sondern der entschließung und des mutes liegt"

 

 

Die Zitate geben eine Ahnung von Stil und Duktus, von der sprachlichen Vielfalt und Stimmung der Gedichte.

Interessant ist auch ihre Bauweise, deren Schlüssel im Titel des Buches, einer Zeile aus dem Gedicht bad in shibuya, liegt.

 

Kanji sind japanische, aus dem Chinesischen stammende Schriftzeichen, bei denen schon eines allein ein Wort bedeuten kann, häufig sind sie aber aus mehreren Zeichen mosaikartig zusammengesetzt. Die einzelnen Striche fließen ineinander, bilden eine harmonische Einheit, ein jeder ist an seinem Platz. Nimmt man einen Strich weg, ist dies alles zerstört, es wird zu etwas anderem.

 

Kathrin Niemelas Gedichte sind wie Kanji um dieses Fließen, den Buchstaben und Worten den richtigen Platz geben, das Gesamtbild, bemüht. Jede Ausschmückung ist ihr fremd, ihr geht es um die Essenz. Bereits in ihrem Debüt hat sie ihre eigene poetische Stimme gefunden. Schön.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kathrin Niemela: wenn ich asche bin, lerne ich kanji

Mit einem Nachwort von Artur Becker

parasitenpresse, 2021, 88 Seiten