Michel Pastoureau - Alle unsere Farben

Eine schillernde Kulturgeschichte

"Stört in diesem Buch das Fehlen farbiger Illustrationen beim Lesen? Ich glaube kaum. Vielmehr glaube ich, dass Farben primär Konzepte, Ideen und gedankliche Kategorien sind. Zweitens sind sie Wörter, also launische Namens-schildchen, die je nach Zeit und Ort variieren und mit der Realität oft wenig gemein haben. Um über Farben zu sprechen, sind wir aber in diesen Wörtern gefangen. Und schließlich sind Farben auch Stoffe, sie sind Licht, Wahrnehmung und sinnliche Empfindung."

 

"Eine schillernde Kulturgeschichte" ist ein wunderbarer Untertitel für dieses lebhafte, weiträumige, informative,

gut lesbare und unterhaltsame Buch über Farben, Gefühle, Sichtweisen, Veränderungen und auch Gleichbleibendes.

Der Historiker Michel Pastoureau verbindet persönliche Erlebnisse mit wissenschaftlichen Fakten, er taucht tief in die Geschichte ein, verfolgt Spuren über Jahrhunderte hinweg, und verliert dabei nie die Leichtigkeit oder ein Augenzwinkern.

Der Text ist ein glänzender Essay: Hier spricht ein Experte so verständlich und den Lesenden zugewandt, dass jede einzelne Seite eine pure Freude ist.

 

Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert, die ihrerseits diverse Unterpunkte haben. Diese thematische Bündelung von Gedanken erleichtert es, sich in einem grenzenlosen Feld zurechtzufinden.

 

Der Autor, geb.1947, der schon als Kind extrem fasziniert war von Farben, und bis heute Teile seiner Weltsicht an ihnen festmacht, wendet sich zunächst dem Feld "Stoffe und Bekleidung" zu. Einem Feld also, um das niemand, und sei er oder sie noch so desinteressiert an Mode, herumkommt.

Hier ist vom Übergang von Schwarz zu Marineblau zu lesen, von der Ambivalenz von Streifen, von der Gefahr, die von Rot ausgeht, oder dem gewissen Blau von Jeans und deren Entwicklung von Kleidungsstück zum Mythos.

 

Von Beginn an zeichnet sich ab, was Michel Pastoureau in seinem ganzen Buch ausführt: Spricht man über Farben, spricht man über Klassifizierungen, Abgrenzungen, Codes und Werte.

 

Auch in den folgenden Kapiteln, "Alltagsleben", "Kunst und Literatur", "In der Sportwelt", in "Mythen und Symbole", "Von Farben und Geschmäckern" und zu guter Letzt in dem Kapitel "Die Wörter" arbeitet er heraus, wie sich das Ansehen von Farben und ihre Zuschreibungen änderte. 

Das erzählt viel über die Entwicklungen der Gesellschaft, auch wenn Farbsehen ein subjektives Empfinden ist.

 

Ein Beispiel ist "Die große Angst vor Grün". Die Farbe Grün rief in der Vergangenheit mehr Aberglaube hervor als Schwarz. Und dieser ist bis heute wirksam: Man findet in Frankreich kaum grüne Kleidungsstücke, Smaragde sind praktisch unverkäuflich, Bücher mit grünem Einband werden keine Bestseller. Dieser Farbe haftet der Ruf an, Unglück zu bringen. Der Autor führt diesen Ruf auf Färbe-praktiken aus dem 17. Jahrhundert zurück. Damals kam man nicht ohne giftige Pigmente wie Grünspan aus, um einen akzeptablen grünen Stoff zu färben. Später benutzte man arsenbasierte Pigmente, beide Varianten führten zu Todesfällen.

 

Doch bereits in der Antike war Grün verrufen, im Mittelalter galt sie als "Lieblingsfarbe des Teufels" und wurde im Lauf der Zeit zur Farbe von allem, was mit Glücksspiel zu tun hat. Die "grüne Sprache" bezeichnete den Jargon von Spelunken und undurchsichtigem Gelichter, sie entwickelte sich zur "Farbe des Unbeständigen". In diesem Zusammenhang gibt vor allem eine in Frankreich gebräuchliche Redewendung zu denken: "auf dem "gründen Teppich" der Vorstandsetagen (entscheidet sich) das Schicksal von Unternehmen und Belegschaft. In Verbindung mit der Farbe Grün fallen Entscheidungen, und dabei geht es manchmal um sehr viel Geld."

 

Michel Pastoureau wandert auch durch die anderen Farben, dabei erfährt man so Erstaunliches wie die einstmalige Gleichsetzung von Schwarz und Rot. Oder das Faktum, dass sich seit der ersten Umfrage zum Thema Lieblingsfarbe in den 1880er Jahren bis heute nichts Grundlegendes an der "Beliebtheitsskala" geändert hat. Und das in ganz Europa:

auf Platz 1 steht Blau, und das bei fast 50% der Befragten. 

Nun erscheint es völlig logisch, dass die Flagge der EU blau ist, auch der blaue Ring der olympischen Flagge steht für Europa. 

 

Für sich allein genommen erscheinen die Anekdoten und Details manchmal kurios - warum ist Rotkäppchens Kappe Rot? Warum sollte ein Schiedsrichter ein schwarzes Trikot tragen? Warum sind Metrofahrten so ergiebig, wenn man Farben studieren will? Warum wurde in der Geschichte der Malerei die Farbe lange Zeit völlig ignoriert? Warum ist das Verschwinden von Nuancen nicht nur beim Farbempfinden, sondern auch in der Sprache ein Warnsignal? und unzählige andere Aspekte -  doch in der Summe entsteht nach und nach ein im wahrsten Sinne buntes Bild der Welt.

 

Die Verbindung von subjektivem Empfinden mit der darunterliegenden gesellschaftlichen Codierung macht das Thema so ergiebig und spannend. Michel Pastoureau gelingt die Darstellung dieser Verbindung auf allen Ebenen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Michel Pastoureau: Alle unsere Farben - Eine schillernde Kulturgeschichte

Aus dem Französischen von Andreas Jandl

Verlag Klaus Wagenbach, 2023, 240 Seiten

(Originalausgabe 2012)

 

 

 

 

 

 

Ein weiteres, sehr interessantes Buch Michel Pastoureaus ist Blau. Die Geschichte einer Farbe, erschienen ebenfalls im Verlag Klaus Wagenbach