Ernest van der Kwast -

Fünf Viertelstunden bis zum Meer

Ezio glaubt, eine Fatamorgana zu sehen, als Giovanna im Juli 1945 in einem zweiteiligen Badeanzug dem Meer vor San Cataldo bei Lecce entsteigt.  Dass dieser ungeheuerlichen Bekleidung ein großes Gezerre zweier Schwestern vorausging, die sich einen Anzug teilen müssen, weiß er nicht, interessiert ihn auch nicht. Er ist fasziniert von Giovannas Nabel.

 

Und er verliebt sich auf der Stelle unsterblich in sie.

Er ist zweiundzwanzig, kennt nur Jungs, kommt aus einer Familie ohne Schwestern. Sie zwanzig, die älteste von fünf Schwestern, die wenigen Szenen, die ihre Familie zeigen, erinnern stark an große Oper.

 

Diese erste, keineswegs zarte, sondern umwerfende Liebe dauert fast vier Monate. In dieser Zeit wandern Giovanna und Ezio täglich fünf Viertelstunden von Lecce zum Strand von San Cataldo, tauchen, spielen miteinander im Wasser, im Sand. Sie geben ihrer Begierde nach, Ezio wähnt sich fast am Ziel seiner Träume. Er macht Giovanna einen Heiratsantrag, sie antwortet, indem sie einfach aufsteht und ins Wasser geht. So macht sie es beim ersten und auch beim zweiten Antrag.

 

"Sie selbst verliebte sich nicht, niemals. Man hätte es für eine Art von Protest halten können, gegen Bürgerlichkeit oder gegen den üblichen Lauf der Dinge, aber in Wahrheit war Giovanna einfach außerstande, ihr Herz einem anderen Menschen zu schenken. Wie schnell sie auch den Weg nach San Cataldo zurücklegte, wie hoch sie auch schwebte: Ihr Herz blieb allein ihr Eigentum. Das Einzige, wonach sie sich sehnte, war das Meer, in dem sie so lange wie möglich tauchte."

Sie taucht wie ein Delfin, länger als ihre Schwestern zusammen.

 

Nach der zweiten Ablehnung flieht Ezio. Er setzt sich in den Zug, dreht sich nicht noch einmal zu Giovanna um, fährt nach Norden. So strandet er in Bozen und wird Apfelpflücker. Er hat ein Talent für die Baumpflege, er weiß das richtige Gleichgewicht herzustellen, nicht zu viele Äste dürfen die Bäume haben, nicht zu wenige.

Hier streift van der Kwast kurz die Spannungen zwischen Südtirolern und Italienern, die in den 60er und 70er Jahren zu Bombenanschlägen mit anschließenden Verhaftungen und Morden führten. Ein heute außerhalb Südtirols fast vergessenes Thema, das jedoch der Betrachtung lohnt, da die Entwicklung zeigt, dass ein Zusammenleben verschiedener Kulturen gelingen kann.

 

Ezio selbst kommt im Lauf der Jahre wieder einigermaßen ins Gleichgewicht - nicht zuletzt, weil er sich in den Apfelbäumen wiedererkennt. Er heiratet nicht und eine Sehnsucht bleibt in der Tiefe zurück, er vergisst Giovanna nie, er hofft aber auch nicht auf ein Wiedersehen.

"Er war nicht unglücklich, aber bei Weitem nicht vollständig."

 

Da erreicht ihn nach sechzig Jahren - hätten sie geheiratet, würden sie Diamantene Hochzeit feiern - ein Brief von ihr.

Nach deutlich mehr als einem halben Menschenleben schreibt Giovanna an Ezio.

"..... Dieser Brief hat ein Frauenleben gebraucht, um Dich zu erreichen....."

Nach wenigen Tagen packt er ein Köfferchen und setzt sich in den Zug, um erstmals wieder in den Süden zu fahren.

 

Der Erhalt des Briefes eröffnet die Erzählung, die Ankunft Ezios in Lecce bildet die letzte Szene. Dazwischen mäandert der Text zwischen der Gegenwart und den Erinnerungen der Protagonisten hin und her.

Die traurig-schöne Liebesgeschichte, die so leidenschaftlich begann, ist zugleich die Geschichte eines Migranten, der alle Wurzeln gekappt hat. Irgendwann beschleicht ihn jedoch Reue: hätte er doch zurücksehen sollen?

 

Interessant ist auch Giovanna:  mit ihrem Streben nach Unabhängigkeit, ihrem Herz, das erst mit den Jahren weicher und zugänglicher wird und ihrer Affinität zum Meer ist sie eine der vielen modernen Sirenen, die die mediterrane Literatur bevölkern und bereichern.

 

Van der Kwast, halb indischer und halb niederländischer Herkunft, lebt heute in Südtirol. Er benutzt aber Italien nicht als Kulisse für seinen Roman, er hat sich tief in die Kultur des Landes hineinbegeben und eine genuine donna Pugliese geschaffen.

 

 

 

 

 

 

 

Ernest van der Kwast: Fünf Viertelstunden bis zum Meer

Übersetzt von Andreas Ecke

Mare Verlag, 2015, 96 Seiten 

btb-Taschenbuch, 2016, 112 Seiten

(Originalausgabe 2012)