Daniel de Roulet - Zehn unbekümmerte Anarchistinnen

"Was zählt, ist nicht, die anarchistische Utopie zu verwirklichen, sondern Anarchistin zu sein. Das ist unsere Weisheit. Die Welt der kommenden Jahrhunderte stellen wir uns nicht frei von jeglicher Macht vor oder endlich erleuchtet von universeller Anarchie. Eher als eine von Anarchistinnen und Anarchisten bevölkerte Welt.

Die Revolte wird ihrem Leben einen Sinn geben, so wie sie unserem einen                                                     Sinn gegeben hat."

 

Diese Feststellung trifft Valentine, als sie schon Jahrzehnte der Suche und auch des Kampfes hinter sich hat.

Sie ist die jüngste der zehn Frauen, die sich der Anarchie verschrieben hatten und dieser Idee bis zum Lebensende treu blieben.

 

Begonnen hat alles, als die unerschrockenen Kämpferinnen noch Kinder waren. In dem kleinen Ort Saint-Irmier im französischsprachigen Teil des Schweizer Jura, im Jahr 1851.

Die Obrigkeit wollte den allseits geschätzten Arzt, "der deutscher Staatsbürger, Israelit und politischer Flüchtling" war, ausweisen. Die Bevölkerung stellte sich dagegen, sie verteidigte ihren Doktor. Daran änderten auch die Soldaten nichts, die von der Regierung geschickt worden waren. Im Gegenteil: die Soldaten verbündeten sich mit den Menschen.

Diese legten die Arbeit nieder, nahmen die Kinder mit zu den Demonstrationen und pflanzten damit einen kräftigen Freiheitsbaum in die Köpfe ihrer Nachkommen.

 

Dieser imaginäre Baum wuchs und wurde kräftig gegossen durch den internationalen Kongress der Anarchisten unter Führung Bakunins in Saint-Irmier 1872.

Da waren die zehn Mädchen schon zu Frauen herangewachsen und ließen sich entzünden von den Ideen einer neuen, gerechten und herrschaftsfreien Welt.

 

Im Tal sah es anders aus: aus Heimwerkerinnen waren Arbeiterinnen geworden. Fast alle arbeiteten in der Uhrenindustrie. Diese florierte oder lag darnieder, je nach Weltkonjunktur. Die Arbeiterinnen mussten schuften oder zu Hause bleiben, ohne Lohn, versteht sich.

Die Frauen waren nicht gewillt, ein solch karges Leben zu führen. Wobei sich karg nicht nur auf das Einkommen bezog, sondern auch auf die Möglichkeiten, vor allem die einer Frau.

 

Selbstbestimmt sollte das Leben sein. In allem.

Auch in der Liebe.

 

Zehn Frauen schmieden Pläne, das Tal zu verlassen.

Nach Südamerika soll es gehen. Werber suchen nach jungen Frauen, die die neue Welt bevölkern, Chile bietet Neuan-kömmlingen Land in Punta Arenas, um sie anzulocken.

Obwohl die beiden ersten, die vorausgefahren waren, erdrosselt aufgefunden werden, reisen die acht anderen trotzdem. Sie sind nicht gewillt, sich zu beugen.

Sie begeben sich in Brest auf ein Schiff, das sie in vier Monaten Überfahrt nach Patagonien bringt.

An Bord sind auch Pariser Kommunarden, die nach Amerika verschifft werden. So will man Probleme aus der Welt schaffen.

 

Sieben Frauen erreichen ihr Ziel. Èmilie stirbt bei der Geburt ihres Sohnes auf dem Schiff.

Sie bekommen nur die Hälfte des zugesagten Landes,

weil keine der Frauen oder Mütter mit Kindern ein Familienoberhaupt hat. 

Gut, dann eben die Hälfte. Mit Hilfe eines Kommunarden bauen die Frauen eigenhändig vier Häuser.

Die feinen Uhrmachrinnenhände lernen mit "schweren Hämmern, Meißeln, Hobeln umzugehen."

Sie lernen, sich über Wasser zu halten. Wirtschaftlich besser geht es ihnen, als sie eine Bäckerei eröffnen. Dort kauft die Stadtbevölkerung ein und vor allem die Schiffe, die ihre Vorräte auffrischen. Doch:

 

"In Punta Arenas hatten wir in beschränkter Form wiedergefunden, was es schon im Tal gab. Jeder kannte jeden, die gegenseitige Unterstützung war auf einfachste Formen reduziert. Dafür waren wir aber nicht ausgewandert, nur um uns irgendwo niederzulassen, uns durchzuschlagen, zu überleben. Unser Traum von einem anderen Leben rückte in die Ferne."

 

Sie hören von einer Insel westlich der chilenischen Küste,

auf der der Schweizer Alfredo de Rodt formal herrschte.

Auf Juan Fernandez wurde das Experiment des freien Anarchismus durchgeführt. Nach einiger Beratung ziehen sechs Frauen mit ihren sieben Kindern weiter.

Nur eine bleibt in Punta Arenas, sie hat einen Mann gefunden, den sie nicht verlassen möchte.

 

Fünf Frauen kommen in Juan Fernandez an. Die Insel entpuppt sich als etwas ganz anderes, als erwartet, erst auf Puerto Francés finden sie zumindest in Teilen, wonach sie suchen. Dort finden sie "eine zufriedenstellende Lebensform". Da "die Macht weit weg war, taten wir, als hätten wir sie vergessen."

 

Jede einzelne der Frauen lebt ein Liebesleben nach ihrem Geschmack. Nicht heimlich, aber diskret.

Die Kinder werden antitheologisch erzogen: "kein Religions-unterricht, keine angst vor der Hölle, kein Warten auf das Paradies, kein Jesuskind, das irgendwann unsere Seelen rettet." Nicht alle Kinder werden zu Anarchisten, es gibt auch die, die sich später für ein bürgerliches Leben entscheiden.

 

"Wir hatten eine temporäre autonome Zone geschaffen, ähnlich einer Piratengesellschaft."

Diese wird plötzlich von de Rodt bedroht. Den Piratinnen bleibt nur Kampf oder Flucht. Außer Adéle fliehen alle.

Über Tahiti nach Buenos Aires, wo sie eine ganz andere Art von Kampf kennenlernen. Die Frauen hissen die schwarze Flagge, marschieren im autonomen schwarzen Block, genießen das Leben in der Großstadt, das sie radikalisiert. 

 

"Wir gaben uns einen Namen, der selbst unsere treuesten Genossen in Rage versetzte: Einige unbekümmerte Frauen.

Sie fanden, wir hätten uns durchaus um ein paar Dinge zu kümmern: Kinder, Haushalt und schöne Kleider, um sonntagnachmittags mit ihnen Tango tanzen zu gehen."

 

Am 1. Mai 1909 kommt es bei einer Großdemonstration nach einem Streik zu einer Schießerei. Mathilde wird diesen Tag nicht überleben. Oberst Falcón, der den Schießbefehl gab, fällt noch im selben Jahr einem Attentat zum Opfer.

Valentine begibt sich daraufhin sofort außer Landes.

 

Sie nimmt die grünen Hefte mit, die so etwas wie das Vermächtnis der zehn Frauen sind. Sie ist diejenige, die die Geschichte erzählt. Mit Hilfe eines Erzählers, der sich immer wieder einschaltet und den Faden übernimmt.

Diese Erzählweise reflektiert das Thema des Romans, der auf Tatsachen beruht: sie ist anarchistisch.

 

De Roulet ist ein beachtlicher Roman gelungen.

Er spart die Schwierigkeiten nicht aus, die ein Unterfangen so grundlegender Art hat. Doch an keiner Stelle übernehmen Zweifel oder gar Verzweiflung das Heft. Das behalten die unbekümmerten Frauen in der Hand, weil sie stets bereit zum Aufbruch sind. Besser gehen und das Geschaffene zurücklassen, als sich der Herrschaft beugen.

Die Kraft dazu geben sie sich gegenseitig. 

Ganz schlicht lässt sich das in folgendem Satz zusammen fassen:

 

"Als Mädchen gewöhnten wir uns an, zusammenzuhalten, auch später als Frauen, ohne allzu viel Konkurrenz."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Daniel de Roulet: Zehn unbekümmerte Anarchistinnen

Übersetzt von Maria Hoffmann-Dartevelle

Limmat Verlag, 2017, 184 Seiten

(Französische Originalausgabe erscheint 2018)