Katrin Seebacher - Morgen oder Abend

Dieser Roman ist einer der feinsten, stilsichersten und klügsten, die ich jemals gelesen habe. 

Heldin der Geschichte ist Albertina, 1906 bei Hannover geboren. Ihr Leben spielt zwischen Norddeutschland und Italien, erzählt wird rückblickend aus der Gegenwart Anfang der 1990er Jahre. Albertina lebt zu dieser Zeit mit ihrer Schwester Paula zusammen in Lerive am Meer.

 

Albertinas Eltern stammen aus den Dolomiten. Sie betrieben in Seilstedt bei Hannover ein Eiscafé, hatten keine Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern. So wuchsen Albertina, Paula und Marta bei ihrer Tante Clelia im Val di Carese auf. 

1923 wurden die Mädchen nach Deutschland geholt, der Weg führte direkt ins Café, in diesem Familienbetrieb wurde jede Hand gebraucht.

 

Nach einer sehr langen Verlobungszeit heiratete Albertina den Italiener Amadeo, der geschäftlich in Deutschland unterwegs war. Dreißig Jahre alt war sie da schon.

Mit ihm zog sie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zurück ins Caresetal, mit ihnen ein paar Künstlerfreunde Amedeos.

Dieser war viel unterwegs, womit er sein Geld verdiente, wurde Albertina nie so ganz klar. Er handle mit Schmuck, sagte er ihr, erbte dann und wann etwas Geld, fuhr oft nach Turin.

 

"Als Amedeos Geld weg war - warum weiß ich nicht, aber wann: dreiundvierzig jedenfalls - bekam er glücklicherweise gerade den Posten in Hannover. Was Politisches." - so Albertina rückblickend.

Dort blieben sie bis zu Beginn der Sechziger Jahre.

Dann verkauften sie die Eisdiele und zogen zusammen wieder nach Italien. Nicht in die kalten Dolomiten, sondern in die Sonne, die den älteren Herrschaften so gut tat.

Albertina und Amadeo, sowie Paula, deren Mann im Krieg ums Leben gekommen war. Als einzige der Schwestern hatte Paula das Glück, Kinder zu haben. Einen Sohn und eine Tochter, sie bleiben in Deutschland.

 

Soweit der Blick auf das Leben Albertinas.

Sie war eine fröhliche Frau, die gerne tanzte, viel lachte, auf die schönen Seiten des Lebens schaute. Die es in vollen Zügen genoss, an der Promenade spazieren zu gehen, nach der harten Arbeit im Café.

 

Nach Amedeos Tod leben die beiden Schwestern in einer gemeinsamen Wohnung und einem gemeinsamen Leben.

Anfang der 90er fängt dieses Leben an zu bröckeln.

Albertina läuft weg, verläuft sich. Als Paula den Arzt kommen lässt, um nach ihrer Schwester zu sehen, und dieser viele Fragen stellt, antwortet sie in langen Geschichten aus der Vergangenheit. Als Paulas Kinder und Enkel zu Besuch kommen, fragt sich Albertina, was all diese fremden Leute in ihrer Wohnung zu suchen haben.

Albertinas Leben entgleitet ihr sichtlich. 

 

Mittlerweile gibt es viele Bücher, die sich mit dem Thema Demenz beschäftigen. Katrin Seebachers Roman aus dem Jahr 1996 ist einer der ersten, der sich diesem Thema zuwendet, damals war diese Krankheit noch nicht so präsent wie heute. 

 

In meinen Augen hat Katrin Seebacher mit ihrem Buch Maßstäbe gesetzt.

 

Sie lässt einen Erzähler von außen auf das Geschehen schauen und berichten, was Albertina macht.

Parallel dazu erzählt sie die Vergangenheit, das Leben der alten Frau, die zurück schaut, auch, um die zerbröselnde Gegenwart zu kitten, aus der Ich-Perspektive.

Albertina redet mit sich selbst bzw denkt nach, stellt sich selbst Fragen. Manchmal erzählt sie ihre Geschichten, am liebsten die aus dem Valle, anderen Menschen.

 

Durch diese Verflechtung von Gegenwart und Vergangenheit, einmal von außen gesehen, einmal aus der Erinnerung Albertinas, gelingt es ihr, greifbar zu machen, was sich in einem Menschen abspielt, der dabei ist, sich zu verlieren.

 

Eine weitere Perspektive eröffnet sie durch eingefügte Briefe, die die Schwiegertochter Paulas an selbige geschrieben hat.

Kristin begründet damit den Entschluss der Kinder, Albertina in ein Heim zu bringen. Dies sei nötig, weil Paula die Aufgabe nicht mehr alleine meistern könne.

Sobald wie möglich soll auch Paula nach Deutschland geholt werden, um bei ihren Kindern zu leben. 

 

Diese Briefe sind wohlmeinend, abwägend, keineswegs den Eindruck erweckend, hier solle jemand ins Heim abge-schoben werden. Aber sie zeigen einen weitern Blick von außen, diesmal von einer anderen Generation, die sich des Lebens der beiden Damen bemächtigt.

Gut gemeint, aber eben auch bestimmend. 

 

So kommt Albertina in ein "Stift" am Rhein. Paula bleibt noch in Lerive, wohin Albertina über Weihnachten fährt - mit dem Zug, begleitet von ihrem Neffen - um dieses Fest zusammen mit ihrer Schwester feiern zu können, bevor

diese nach Seilstedt umzieht.

 

Das Buch ist sprachlich auf einer Höhe, die man nur bestaunen kann, und die die Autorin ohne Ausrutscher hält.

Ein paar Beispiele:

Amedeo kündigt den Besuch seiner Künstlerfreunde im Eiscafé an, Alba, wie er seine Verlobte nennt, ist sofort sehr aufgeregt:

"Das war beinahe etwas Gefährliches. Da hieß es sich wappnen. Seit Menschengedenken gingen doch Künstler in besonderem Gewand und sahn die andern Menschen schon zu Bildern und Studien geplättet. Da konnte sie doch nicht als Serviermädchen ins Augen-Gedächtnis dieser Künstler eingehn."

 

Oder, Albertina spürt deutlich, dass in ihrem Leben etwas nicht mehr stimmt:

"Hier. Hier ist nicht hier, von einem Tag auf den andern zum entfernten Dort geworden, wie die steinerne Ruhe vor dem Einbruch des blitzenden Tags: so daß es eigentlich überhaupt keine Hiers mehr gibt. Was redest du, Albertina, ich muß doch was redendenken, damit der Tag umgeht, sonst geschieht hierdort nichts, rein gar nichts, ich langweile mich."

 

Oder, Albertina sucht ihren Schlüssel, unter anderem in einem Kästchen, das ihr einer der "Badoglio-Italiener" gemacht hat, um die Amedeo sich während des Krieges kümmerte:

"Mit dem kleinen Finger streichelt sie die groben Intarsien auf dem Kastendeckel. Wie hieß noch der kleine Kunst-tischler, der ihr das gebastelt hat? Dreiundvierzig waren eine Menge Italiener gekommen, auch in Seilstedt wimmelte es mit einem Mal förmlich, Amedeo hatte sich drum gekümmert, daß sie ein paar von ihnen als Arbeitskräfte zugeteilt bekamen..."

Das Kästchen ist der Anstoß zu einer der vielen eigen-ständigen Geschichten innerhalb des Romans, die ihn so vielfältig machen, das Leben zu einer anderen Zeit aufzeichnen und zugleich zeigen, wie mühelos sich Albertinas Geist in der Vergangenheit zurecht findet, während ihr die Gegenwart abhanden kommt. 

 

Katrin Seebachers Roman - das Debüt einer Dreißigjährigen! - ist auch ein Buch über Menschenwürde.

Durchzogen von charmanten Begebenheiten, wie dem Kauf eines kirschroten Lippenstifts oder das Kokettieren mit dem Polizisten, der Albertina nach Hause bringt, nachdem sie sich verlaufen hatte. Oder als Albertina Herrn Dr. Raab (ein Heimbewohner), mit dem zusammen sie ein bisschen viel Likör getrunken hat, "mitküsst". Warum nicht?

 

Enden möchte ich mit dem ersten Absatz des Romans, der eine schöne und präzise Einstimmung in das Buch ist:

 

"Morgen oder Abend? Wenn mans wüßte, welche Zeit ist: Abend oder Morgen? Wann ist es hell gewesen?

Vorhin doch nicht? War es da hell? Wenns nicht Tag war, als sie sich hingelegt haben, dann können sie also jetzt keinen Mittagsschlaf gehalten haben.

Überall war Dunkel: vorhin muß Nacht gewesen sein; Paula und sie haben die neue Glühbirne eingeschraubt.

Ein Gewitter ist übers Meer gezogen. Wie immer sind die Sicherungen im ganzen Haus gesprungen. Bald drauf ist die ganze Stadt erloschen, und es wurde schlimme, scheinlose, blitzende Nacht."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kartin Seebacher: Morgen oder Abend

Libelle Verlag, 1996, 316 Seiten