Robert Seethaler - Der Trafikant

 

 

Der Autor ist mir bekannt von seinem vorletzten Roman "Die weiteren Aussichten" (2008). Diese ziemlich schräge Geschichte fand ich schon gut, weil sie so schön anders war, mit einem phantasievollen Plot und ungewöhnlichen Helden.

 

 

Der neue Roman ist nun ein Quantensprung: Seethaler hat seinen Stil enorm weiter entwickelt.

Er verwebt eine Jugendbiographie so gekonnt in einen kleinen, aber sehr wichtigen Ausschnitt des Lebens des berühmten Dr. Freud und zeichnet damit ein Zeitportrait mit so feiner Feder, dass es purer Lesegenuss ist. Genuss, was den Roman angeht, Trauer über das Thema: Dr. Freud, der Trafikant Otto Trsnjek und der Lehrling der Trafik, Franz Huchel, werden Opfer des nationalistischen Wahns in Österreich.

 

Franz kommt mit 17 Jahren vom Attersee im Salzkammergut nach Wien. Seine lebenskluge Mutter hat ihm dort eine Lehrstelle in einer Trafik verschafft. Dies ist ein kleiner Laden, in dem Rauchwaren und Zeitungen verkauft werden und die wichtigste Aufgabe des Trafikanten ist das Zeitunglesen. Dieses bekommt Franz von seinem Lehrherrn Trsnjek beigebracht. Trsnjeks Alter lässt sich nur schätzen: er war als Soldat im 1.Weltkrieg, dort hat er ein Bein verloren. 1919 gründete er die Trafik, nun schreiben wir das Jahr 1937.

 

Franz lebt sich recht schnell ein. Er hat eine Kammer in der Trafik, dort schläft er, die restliche Zeit verbringt er im Laden. Er lernt die Zeitungen, die Zigarren sowie die Kunden und ihre Besonderheiten kennen. Ein Kunde fällt ihm sofort auf: Herr Prof.Dr. Freud, der "Deppendoktor", wie er liebevoll genannt wird. Als dieser einmal seinen Hut auf dem Ladentisch liegen lässt, rennt Franz ihm nach, begleitet ihn in die Berggasse, wo Dr. Freud wohnt, sie kommen ins Gespräch miteinander. 

 

Dieser Dialog ist köstlich: "Stimmt es, dass Sie den Leuten ihre Schädel wieder gerade richten können? Und ihnen hernach beibringen, wie ein ordentliches Leben ausschaut?"..."Wir rücken überhaupt nichts gerade. Aber wenigstens renken wir auch nichts aus, und das ist in den heutigen Ordinationen gar nicht so selbstredend. Wir können gewisse Verirrungen erklären..." "Und wie stellen Sie das alles an?" "Die Menschen legen sich auf meine Couch und beginnen zu reden." "Das klingt gemütlich." "Die Wahrheit ist selten gemütlich"..."Hm, darüber muss ich nachdenken."

Franz kündigt an, Dr. Freuds Bücher zu lesen.

Doch Dr. Freud gibt Franz den Rat, lieber nicht die dicken Schinken alter Herren zu lesen, sondern: "Du bist jung. Geh an die frische Luft. Mach einen Ausflug. Amüsier dich. Such dir ein Mädchen."

Sie reden noch eine Weile über die Liebe im Allgemeinen, Dr. Freud sagt, er verstünde nichts davon, aber man müsse ja auch "das Wasser nicht verstehen, um kopfvoran hineinzuspringen!"

Er verabschiedet sich mit den Worten:"Mit Frauen ist es wie mit Zigarren: Wenn man zu fest an ihnen zieht, verweigern sie einem den Genuss."

 

Den Ratschlag, sich ein Mädchen zu suchen, befolgt Franz noch am selben Abend. Er geht zum Prater, trinkt ein frisches Bier, bekommt in der Märchenbahn das heulende Elend, vertreibt die Traurigkeit mit noch einem Bier und begegnet dem Mädchen mit der süßesten Zahnlücke der Welt. Sie flirten, turteln, tanzen, Franz ist seelig. Und plötzlich ist sie verschwunden und taucht auch nicht wieder auf.

 

Spät in der Nacht fällt Franz in sein Bett, am nächsten Morgen hat er keine Zeit über sein persönliches Leid nachzudenken: die Trafik wurde mit Schweineblut beschmiert. "Schleich dich, Judenfreund!" steht in großen Buchstaben geschrieben. Täter war vermutlich der Nachbar, ein Fleischhacker mit "Scheiße im Hirn und der schwarzen Gemeinheit im Herzen. Und wenn man sich so umschaut, ist er damit nicht alleine."

 

Immer wieder werden über die Worte des Trafikanten, kleine Bemerkungen Dr. Freuds oder Beschreibungen von ganz "normalen" Menschen Aussagen über die politische Stimmung gemacht. Diese Atmosphäre der Dumpfheit bei gleichzeitiger Aufheizung, die sich rasant entwickelnde Begeisterung für den kleinen Mann aus Braunau, die zunehmende Gleichschaltung der Presse, das "gedruckte Geschrei" in den Zeitungen, fließt gekonnt in die Geschichte um Franz und seine unglückliche Liebe ein.

 

Im weiteren Verlauf des Romans finden sich Franz und Anezka wieder, leider nicht endgültig, denn immer wieder verschwindet sie einfach.

Durch sie lernt Franz einen nächtlichen Teil Wiens kennen, die "Grotte", in der neben Nackttänzen auch politisches Kabarett geboten wird.

Er lernt die Liebe kennen, die ein Feuer in ihm entfacht, von dem er weiß, dass es nie wieder gelöscht werden wird. 

 

Mit Dr. Freud führt er weitere Gespräche. Für beide ist dies eine besondere Situation, denn normalerweise fühlt Freud sich bei den "einfachen Leuten" so wenig wohl wie Franz bei den "gescheiten." Aber diese beiden Menschen finden eine Ebene, auf der sie sehr gut miteinander sprechen können und einmal ist Freud wirklich erstaunt, auf was für einen kleinen, klaren Punkt Franz die Freudsche Lehre bringt:

 

"Könnte es vielleicht sein, dass Ihre Couchmethode nichts anderes macht, als die Leute von ihren ausgelatschten, aber gemütlichen Wegen abzudrängeln, um sie auf einen völlig unbekannten Steinacker zu schicken, wo sie sich mühselig ihren Weg suchen müssen, von dem sie nicht die geringste Ahnung haben, wie er aussieht, wie weit er geht  und ob er überhaupt zu irgendeinem Ziel führt?....Warum sehen Sie mich denn so komisch an, Herr Professor?...Als ob ich etwas unglaublich Blödsinniges gesagt hätte." "Nein, das hast du nicht. Das hast du ganz und gar nicht."

 

Nun überschlagen sich die Ereignisse: die Trafik wird wieder verwüstet, diesmal gründlich, "Hier kauft der Jud!" wird hingeschmiert.

Die Polizei kommt, aber nicht etwa um diese Straftat aufzuklären, sondern um den Trafikanten zu verhaften. Der Grund: er hat Pornohefte verkauft. Franz sagt, das wären seine, sie sollten ihn verhaften, doch natürlich ist dies sowieso nur eine vorgeschobene Behauptung.

 

Trsnjek kommt ins "Hotel Metropol", das Hauptquartier der SS.

Franz übernimmt die Verantwortung für die Trafik. Täglich geht er jedoch zur Mittagszeit ins Metropol und fragt nach Trsnjek, so lange, bis er dort niedergeschlagen wird und Hausverbot bekommt.

 

Nicht lange danach (im Mai 1938) erhält er ein Päckchen mit den "persönlichen Gegenständen" Trsnjeks: Schlüsselbund, Geldbörse, Hose. Er sei "einem Herzleiden" erlegen.

Franz ist verzweifelt. Wieder schreibt er einen Brief an seine Mutter, das tut er nur, wenn er sehr wichtige Dinge mitzuteilen hat, ansonsten schreibt er ihr wöchentlich eine Postkarte. Er schafft es nicht, die Wahrheit zu benennen, er schreibt ihr, Trsnjek sei friedlich eingeschlafen, während des Urlaubs bei Verwandten auf dem Land.

 

Als dann am 4. Juni 1938 Dr. Freud Wien verlässt, um nach London ins Exil zu gehen - die beiden Männer führen ein letztes Gespräch einen Tag vor der Abreise - und Franz es kaum ertragen kann, diesen alten, zarten Menschen in den Zug steigen zu sehen, trifft er eine Entscheidung.

 

Auf den letzten Seiten ist zu lesen, dass "Jemand" die mittlere der drei Hakenkreuzfahnen vor dem Metropol heruntergenommen und statt dessen eine einbeinige Hose gehisst hat. Aufgebläht flatterte sie wie ein Zeigefinger im Wind. (Zur Erinnerung: Trsnjek hatte nur ein Bein).

Franz wird daraufhin abgeholt.

Anezka findet im März 1945 einen seiner Traumzettel, die er immer an die Scheibe der Trafik geklebt hat, dort noch vor.

 

Der Schreibstil verändert sich mit der Geschichte. Herrscht im ersten Teil noch eine feine Ironie, so entwickelt sich mit der Tragik eine zunehmende Dichte. Die Worte liegen nicht mehr so leicht auf dem Papier, Form und Inhalt sind so passgenau aufeinander abgestimmt, wie man es selten zu lesen bekommt.

 

Die Szene, in der Franz abgeholt wird, zeigt die Männer, die ihren Auftrag ausführen, Frauen, die mit dem Fahrrad vorbeifahren oder verblühte Geranien abschneiden (das normale Leben geht weiter) und Franz, der mit großer Konzentration seinen Zettel anklebt und danach gewissenhaft die Trafik abschließt.

"Der Zettel fühlte sich warm an, und es war, als ob die Scheibe darunter atmete, ein kaum merkliches Heben und Senken unter der Handfläche. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass seine Finger zitterten.

"Ich muss noch zusperren",sagte er. "Weil wer weiß schon, was sein wird." 

 

Wir wissen dass Anezka bis März 1945 überlebt hat.

An dem Tag, an dem die alliierten Bomberverbände auf die Stadt zufliegen, findet sie den Zettel.

Was aus Franz wurde, wissen wir nicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

Robert Seethaler: Der Trafikant

Kein & Aber Verlag, 2012, 256 Seiten

kartoniert: Kein & Aber, 2013, 256 Seiten