Ralf Thenior - Das bulgarische Gefühl

Reisebilder aus Plovdiv und vom Schwarzen Meer

Ralf Thenior, geboren 1945, war Stipendiat des Künstlerhauses Edenkoben. Dieses unterhält eine Partnerschaft mit der bulgarischen Stadt Plovdiv, Thenior lebte dort einige Zeit als Stadtschreiber.

Da Plovdiv in diesem Jahr eine der beiden europäischen Kulturhaupt-städte ist, ist das dort entstandene Buch eine spannende Lektüre, auch wenn es  schon 1998 erschien. 

 

 

Zwei Jahr zuvor hielt sich Thenior in Bulgarien auf.

Der Umbruch lag noch nicht lange zurück, für die Menschen hatte sich im Alltag nichts zum Besseren gewendet.

Im Gegenteil. Die Inflation lag 1995 bei über 60%, weder Renten noch Gehälter reichten für ein auch nur

bescheidenes Leben. 

1990 endete die Ära des Kommunismus als die ersten freien Wahlen stattfanden, doch bis 1997 regierten die ehemaligen Kommunisten mit. Nicht wenige davon offenbar, um möglichst viel Staatsbesitz auf die eigene Seite zu bringen.

 

Thenio begegnet also Menschen, die noch mit einem Bein in ihrem alten Leben stehen, und man noch nicht genau weiß, wohin das neue führen wird. Reformen und gesellschaftliche Veränderungen stehen aus - Übergangszeiten sind immer schwierig.

 

Doch er wird freundlich empfangen und begleitet.

Der erste Text beginnt mit dem Satz:

"Bulgarien beginnt mit einem Salat aus Gurke, Paprika, Tomate, Petersilie und drübergeriebenem Käse ..." -

es mag regieren, wer will, es gibt Traditionen, die sind älter als jedes Regierungssystem.

 

Seine Wohnung liegt im Lamartine-Haus, auch sie ist bescheiden, aber "ein Raum zum Atmen ganz für mich allein."

Er kommt an, dreht eine Runde durch die herbstliche Stadt, kommt an antiken Gebäuden und modernen Klubs vorbei, lauscht den Vögeln oder isst eine Kleinigkeit.

Er stimmt sich ein auf die vor ihm liegende Zeit.

 

Dieses Einstimmen schreibt er nieder in poetisch konzentrierten Miniaturen, kaum eine ist mehr als zehn Zeilen lang. Sie alle sind ein Zusammenspiel von Sehen, Schmecken, Riechen, Hören - und der Einübung in die vollkommen unbekannte Sprache, sowie der Besonderheit, dass die Bulgaren nicken, wenn sie "nein" meinen, und den Kopf schütteln, wenn sie "ja" sagen.

 

Das Wissen, dass dies so ist, "nützt nicht viel; die Konditio-nierung der Interpretation dieser Geste sitzt zu tief; man geht immer wieder in die Falle".

 

Mit "Nicken heißt nein" ist der erste Teil des Buches über-schrieben, der zweite trägt die Überschrift "Meeräsche kommt gleich!" Der Autor fährt ans Meer, nach Varna.

Er kommt nach der Saison dort an, die meisten Hotels haben bereits geschlossen. Für viele bis sehr viele Dollar kann er Zimmer bekommen, er isst zu Abend mit einem Hotel-besitzer, er besucht das riesige Aquarium, streift am Meeres-saum entlang, er fährt von Varna aus in andere Städte, auch sie verlassen - von Touristen und den Jungen, die ihr Glück im Ausland suchen.

 

Er spricht kurz aber konzentriert von Todor Schivkov, der das Land über dreißig Jahre lang regierte, kommt direkt danach zu Pawel, der von seinem Vater den Rat bekam, niemals auf der Straße etwas zu sagen. Es reicht, um abgeholt zu werden und auf immer zu verschwinden.

 

So streifen auch die Politik und die Zeitgeschichte durch die Notate über die Menschen und ihre Städte.

Nicht aufdringlich, aber auch nicht außen vor gelassen.

 

Die Rückkehr ins Künstlerhaus bildet das letzte Kapitel.

"Im Wiedergeburtszimmer" ist sein Titel. Es erscheint plötzlich viel älter als zu Beginn des Buches - vielleicht weil der Schriftsteller nun in das Land eingetaucht ist?

Er trifft sich mit der Übersetzerin, Kollegen, besucht Kirchen und vermittelt insgesamt das Bild einer sehr gedämpften Stadt. 

 

Der Beobachter bringt seine eigene Stimmung und die des Landes in zwei Abschnitten auf den Punkt:

 

"Schwer zu sagen, was es ist; selbst an schönen Tagen bin ich, obwohl ich rieche, sehe, höre, schmecke, nicht wirklich da; die Schwere überall und in den Knochen löst sich nicht auf, die Seelenlähmung bleibt; kleine Dämonen schmuggeln Weihnachtslieder ins Musikprogramm, sie schütten Wasser in die Aschenbecher, es zischt, schwarz ist die Glut der Zigarette. "

 

Und:

"Der mangelnde südländische Überschwang, die Zurück-haltung, die mir auffällt, entsprechen nicht, höre ich, der Mentalität: die Menschen sind verzweifelt, ziehen sich auf ihr eigenes Leben zurück, jeder Tag bringt neue Katastro-phen, ein Kilo Fleisch, einen halben Monatslohn, morgen den ganzen, die Heizungskosten explodieren, und alle haben Angst vor diesem Winter."

 

Spannend wäre es, wenn der Stadtschreiber jetzt noch einmal nach Plovdiv reisen und seine Eindrücke nieder-schreiben würde. Vorbereitet durch den Blick, der vor zwanzig Jahren auf diese Regionen geworfen wurde, wäre 

der Leser umso aufmerksamer für die Gegenwart, könnte

die Veränderungen, die immens sein dürften, wirklich wahrnehmen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ralf Thenior: Das bulgarische Gefühl

Verlag Das Wunderhorn, 1998, 48 Seiten