Federigo Tozzi - Mit geschlossenen Augen

 

 

Tozzi ist einer der großen italienischen Schriftsteller der Moderne. Neben Calvino und Svevo gehört er zu den Klassikern - mit dem Unterschied, dass Tozzi in Deutschland bisher so gut wie unbekannt ist. Dabei sind seine Texte in der vielbereisten und vielgeliebten Toskana angesiedelt, er zeigt sie zu einem Zeitpunkt, als sie noch nicht vom Tourismus überschwemmt war.

 

Tozzi wird 1883 als achtes (und einzig überlebendes) Kind in Siena geboren, seine Eltern betreiben dort eine Trattoria und außerhalb der Stadt ein Landgut. Er wird recht früh von der Schule gewiesen und verliert noch im selben Jahr die Mutter (1895).

 

Diese Lebensumstände und Daten stimmen mit denen des Pietro Rosi überein, der Figur des Sohnes im Roman

"Mit geschlossenen Augen".

 

Pietro ist ein Kind, das zwischen der Trattoria und dem Bauernhof aufwächst, die Mutter liebt ihn sehr, kann aber ihren Gefühlen keinen Ausdruck geben, die beiden bleiben sich fremd.

Bestimmend ist der Vater Domenico, ein Padrone vom alten Schlag. Er ist ein gewitzter Händler, ein rücksichtsloser Arbeitgeber, ein König in seinem kleinen Reich.

 

Pietro ist weder intelligent, noch hat er eine besondere Begabung. Er kommt in der Schule nur sehr langsam voran, will Zeichnen lernen, gibt sich zum Leidwesen seines Vaters dann und wann der Lektüre hin, schafft schließlich die Realschule, geht dann nach Florenz in eine technische Oberschule, schafft die Prüfung nicht, versucht sich nocheinmal in einer externen Prüfung ... er kann ja immer noch die Trattoria übernehmen, später, wenn er ein Mann geworden ist. Aber dass dies jemals geschieht, bezweifelt Domenico sehr.

 

Der Vater schaut lange zu bei Pietros Bemühungen, einen Fuß auf den Boden zu bringen, aber letztendlich hat er ihm nie eine Chance gegeben, eine Persönlichkeit zu entwickeln.

 

Nach dem Tod der Mutter, Pietro ist sechzechn, packt ihn einmal die Wut auf seinen Sohn:

"Am liebsten hätte er Pietro mit den Händen gepackt und zerbrochen wie einen Zweig! Ausgerechnet der eigene Sohn entzog sich seinem Willen? Hätte er nicht im Gegenteil mehr gehorchen müssen als alle anderen?"

 

Pietro verliebt sich in Ghisola, ein Mädchen seines Alters, die auf dem Hof seines Vaters arbeitet. Nachdem sie von dort weggeschickt worden ist, lebt sie wieder in Radda bei ihren Eltern, dann eine Weile in Castellina bei ihrer Schwester, dann in einem Dorf bei Florenz. Sie ist eine unstete Person, träumt davon, eines Tages Padrona zu werden und sieht ihre Chancen bei Pietro.

Er erklärt ihr auch seine Liebe, aber als er sie schließlich in einem Heim für "gefallene Frauen" wiederfindet erstirbt diese in dem Augenblick, in dem er ihren Bauch erblickt...

Es war ihr nicht gelungen, ihn rechtzeitig zu verführen, eigentlich hatte sie ihm ein Kuckucksei unterschieben wollen.

 

In dieser rückständigen Gesellschaft kann nicht mit offenen Karten gespielt werden. Aufstieg hängt oft mit Betrug zusammen, ein eigener Vorteil setzt die Übervorteilung eines anderen voraus.

 

Keine Figur des Romans ist ein Sympathieträger, nicht die Mutter, nicht die Bauern oder Trattoriabesucher.

Tozzis Figuren scheitern. Sie leben in einer wunderbaren Landschaft, die er immer wieder sehr eindrucksvoll beschreibt, aber sie verharren in der Knechtschaft.

Dies klagt er nicht an, er gibt niemandem eine persönliche Schuld, er lenkt den Blick des Lesers auf die Zerbrechlichkeit des Menschen und seiner Träume.

 

Interessant ist ein Vergleich dieses Romans mit

"Die Sonne der Scorta", eine in Apulien angesiedelte Familiengeschichte.

Pietro ist ungefähr im Alter von Carmela Scorta und ihren Brüdern. Diese werden nach dem Tod ihres Vaters in bittere Armut gestoßen (er vermacht sein ganzes, großes, zusammengeraubtes und erpresstes Vermögen der Kirche), sie müssen plötzlich für sich selbst sorgen.

Sie wandern aus, kommen zurück nach Apulien, eröffnen einen Tabakladen und schaffen es, sich einen bescheidenen Wohlstand zu erarbeiten.

Das war ein sehr harter Weg, sie waren gezwungen bei Null anzufangen, vor allem aber waren sie ohne den Schutz und ohne die Bevormundung durch den Padrone.

Diesem entrinnt Pietro nie.

 

Im Verlauf des Romans wird zwar der Schwerpunkt zunehmend auf Pietro gelegt, aber er reift nicht.

Blind, mit geschlossenen Augen, stürzt er sich in die Liebe zu Ghisola, aber er sieht sie nicht. Nicht als Mensch, nur als ein Abbild seiner Vorstellungen.

Erst der Anblick ihres schwangeren Leibes öffnet ihm die Augen - gerade lange genug, um in Ohnmacht zu fallen.

 

Der klare Stil Tozzis, seine Herkunft aus dem beschriebenen Milieu, seine Fragen nach der Schuld ohne Schuldzuweisungen und seine Begabung, Menschen darzustellen, zeichnen seinen Roman aus. Man wünscht diesem Schriftsteller eine größere Aufmerksamkeit, als sie ihm bislang zuteil wurde.

 

 

 

 

 

Federigo Tozzi: Mit geschlossenen Augen

Übersetzt von Ragni Maria Gschwend

Wagenbach 2011, 187 Seiten

(Italienische Originalausgabe 1919)