Lydia Steinbacher - Wolgaland

"Das Fehlende (ist) auffälliger als alles andere" - dieser auf den ersten Blick schlicht klingende Satz ist einer der tragenden Säulen dieses Romans.

Er erzählt von den Leerstellen des Lebens, den Sehnsüchten und Versuchen, diese zu füllen. Wenige Figuren genügen der herausragenden Lydia Steinbacher, um wesentlichen Fragen auf den Grund zu gehen.

 

Wie viel haben die abgelagerten Schichten an Erinnerungen mit den realen Geschehnissen in der Vergangenheit zu tun? Lassen sich eigene Erinnerungen von Gehörtem, erzählt Bekommenen unterscheiden? Wann wird das Fremde zum Eigenen? Wie viel Realität beinhaltet ein Abbild, zum Beispiel ein (altes) Foto? Kann ein Mensch eine Lücke füllen, die ein anderer hinterlassen hat, oder bleibt sie ein lebens-langer Schmerz?

 

Diese und noch viele Fragen mehr fächert die 1993 geborene, in Wien und im Burgenland lebende Autorin auf.

 

Im wesentlichen konzentriert sie sich auf drei Figuren.

Da ist der schon etwas ältere Alexandr Niebel, er leitet den Männerchor eines Dorfes. Dessen Proben finden in einem Gasthaus statt, in dem Lana bedient. Sie macht diesen Job an einem Tag in der Woche als Ausgleich zu ihrer eigentlichen Arbeit als Fachärztin für Fische. Ein Mitglied des Chores ist Jonathan. Er arbeitet im elterlichen Betrieb mit, ist den Eltern zwiespältig verbunden, hat aber eine eigene kleine Wohnung. Und ein "Zweitbüro", ein Atelier, in dem er Skulpturen kreiert und eine Fotosammlung aufbewahrt.

Diese Bilder, Abbilder der Vergangenheit, wurden ihm von verschiedenen Dorfbewohnern anonym zur Verfügung gestellt, Jonathan macht aus ihnen ein Projekt. Er erfindet eine Geschichte, indem er beschreibt, was auf den Fotos zu sehen ist. Diese künstlerische Arbeit ist seine wahre Berufung, die andere Tätigkeit nur der Vernunft geschuldet.

Symbolisiert wird diese Zweiteilung in den zwei "Massen", aus denen sein Körper besteht, und die sich mal mehr, mal weniger gut miteinander vertragen: Zement und Lehm.

 

Die Bildbeschreibungen geben Jonathan die "uneinge-schränkte Deutungshoheit" über die Vergangenheit der auf den Fotos Abgebildeten. Eine Hoheit, die er in der Realität nicht einmal über sein eigenes Leben besitzt. Heimlich schleicht er sich an die Villa heran, in die eine Familie eingezogen ist, über die man im Dorf nichts weiß. Von dem etwa gleichaltrigen Sohn Abel ist Jonathan so fasziniert, dass er sich ein Fantasiegebäude zurecht zimmert, das absolut nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. 

Er versteigt sich so sehr in dieser Fantasie, dass er schließlich das Dorf verlassen muss, ins "Exil geschickt" wird. Von seiner Mutter.

 

An- und abwesende Mütter bilden einen eigenen Erzähl-strang des Romans.

Jonathans und Abels Mütter haben eines gemeinsam: den vorwurfsvollen Ton.

"Beinahe hätte er die Stimme mit der seiner eigenen Mutter verwechselt - oder war diese das Echo? So bekannt der Tonfall, die Struktur des Vorwurfs. Es war ein erlernbares Handwerk, der Schuld ein Gefäß - vielleicht so etwas wie eine Amphore - zu formen, die später sehr simpel zu befüllen war."

Lana, die einen zwölfjährigen Sohn hat, der bei seinem Vater in Nizza lebt, spürt überhaupt keine Verbindung zu Tom.

Viel mehr fühlt sie sich zur Tochter ihres momentanen Lebensgefährten Gregor hingezogen. Dieser ist ein wütender Übervater, der seiner Tochter Sarah gehörig auf die Nerven geht. Auch aus diesem Grund sucht Sarah die Nähe zu Lana.

"Was war sie nur für eine Mutter? Sie drückte Sarahs Hand. Und wem?"

 

Alexandrs Mutter starb wenige Stunden nach seiner Geburt. So erlebte sie die Deportation in den 1940er Jahren nach Sibirien nicht mehr, nicht die Jahre des Vaters im Arbeits-lager, seine Rückkehr als gebrochener Mann. Alexandrs Tante Nelly war ihm eine gute Mutter, doch das Innere Alexandrs füllte der Vater mit seinen Erzählungen aus dem Wolgaland. Dorthin sehnte er sich bis zu seinem Tod, die Sehnsucht vererbt er an seinen Sohn. Dieser kennt dieses Land nicht mehr aus eigener Erinnerung, es ist die Heimat des Vaters - wo liegt seine eigene?

 

In der Musik? Warum macht er Musik? Für wen?

Die Antwort auf diese Fragen entnimmt Lana den Aufzeich-nungen Alexandrs, die er ihr eines Tages übergibt. 

Wie die Bildbeschreibungen Jonathans sind Alexandrs Erinnerungen in den Roman eingefügt, kenntlich gemacht durch Kursivdruck. Hier begegnen sich zwei verschiedene Arten von Vergangenheitsrekonstruktion, die dem gesamten Roman, der all die Geschehnisse der Gegenwart sehr realistisch und konkret beschreibt, eine schwebende Ebene gibt. 

 

So, wie Alexandr die Melodien und Texte zweier Volkslieder für den Chor zu einem Musikstück ineinander verwoben hat - "Wie zwei unvollkommene Hälften zusammengeschmiedet" - so webt Lydia Steinbacher die Leben und die Lebensge-schichten ihrer Figuren zu einer Erzählung ineinander. 

Diverse Motive wiederholen sich in Varianten, es gibt Harmonien und Dissonanzen, sehr leise und nachdenkliche Passagen und solche, die von Wutausbrüchen erzählen. So entsteht ein plastisches Bild, ein bewegtes Bühnenstück, ein Drama, das auf ein tragisches Ende zusteuert.

 

Der Chorleiter Alexandr versucht, die Stimmen seiner mehr als zwanzig Sänger zu einem Klangkörper zu vereinen.

In seinem Körper wächst die Vergangenheit:

"Die Vergangenheit fühlte sich für Alexandr an wie ein Ballon, der sich in seinem Körper blähte. Er musste die Wolga sehen, bevor er platzte. Da war er, der Entschluss zu reisen."

 

Alexandr sucht eine geografische Heimat, die ein Anker für seine Seele sein kann. Jonathan sucht eine verwandte Seele, verliert sich in Träumen. Lana fragt sich, "ob überhaupt zusammengehörte, was sie als ähnlich und sich ergänzend ansah - dies noch vor der Frage nach Rechtfertigung des Gegeneinanderaufwiegens von vermeintlichem Abbild der Wirklichkeit und Erzählung".

 

Sie alle sind Suchende, verschiedene Lebensmuster Ver-Suchende. Die Melodien ihrer Leben sind in Moll geschrieben. Ein Satz, der aus den brillanten Erzählungen "Schalenmenschen" stammt, könnte auch in diesem Roman stehen:

"Egal, welchen Weg ich gehe, ich werde nicht ankommen, jener Ort hat nur einen erfundenen Namen. ..."

 

Ist auch die Vergangenheit eine Erfindung? Das Leben besteht aus fast nichts anderem ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lydia Steinbacher: Wolgaland

Septime Verlag, 2022, 240 Seiten