Edem Awumey - Die schmutzigen Füße

Askia fährt Taxi in Paris. Eines Tages steigt eine Frau in seinen Wagen, die sagt, er komme ihr bekannt vor. Er erinnere sie an einen Mann mit einem weißen Turban, den sie vor Jahren fotografiert habe. Es ist nicht das erste Mal, dass er auf diesen Mann angesprochen wird und es könnte tatsächlich sein Vater sein.

 

 

Askia ist siebenundvierzig, seit langem auf der Suche nach seinem Vater, der stets einen blütenweißen Turban trug.

Und der wahrscheinlich in Paris lebt.

 

Er war knapp fünf, da verließ die kleine Familie ihr Heimatdorf in Mali. Nirgendwo konnte sie für längere Zeit Fuß fassen, immer ging es weiter. Als Askia zehn war, ließ der Vater ihn und seine Mutter im Stich, so drückt es die Mutter aus. Sie schaffte es aber sogar, ihrem Sohn ein Studium an einer Universität in Guinea zu ermöglichen,

doch Askia wählte keinen akademischen Beruf, er entschied sich für einen anderen Weg. 

 

Der "Fluch unserer Familie ist, immer wieder aufbrechen zu müssen, zahllose Wege zu gehen bis zur Erschöpfung oder zum Tod." So Askias Mutter.

 

Der Roman verknüpft die Gegenwart Askias mit dem langen Weg, der hinter ihm liegt.

Zugleich ist er eine Geschichte des ewigen Wanderers, der ewigen Flucht. Eine Geschichte all jener, in deren Füßen sich der "Dreck und Staub der vielen Straßen" eingraviert hat.

 

In Askias Erinnerungen verschmelzen verschiedene Zeitebenen, Orte überlappen sich in Träumen oder Gedankenspielen. Diese Art zu erzählen macht den Roman nicht nur interessant zu lesen, sie stellt damit auch die Frage: Was ist real?

 

Dem Fließen der Erinnerungen stellt Edem Awumey die Fotografie entgegen.

Sie nimmt den Moment auf, bewahrt ihn für immer, scheint eine Realität herzustellen, die dem Leben fehlt. 

 

Die Fotografin Olia, die Kundin aus dem Taxi, wird ein wichtiger Mensch für Askia. Er besucht sie des Öfteren, sie sucht die Fotos, die sie von Sidi, dem vermeintlichen Vater Askias, gemacht hat. Sie kann sie nicht finden. Aber sie zeigt ihm den Ort, an dem sie aufgenommen wurden.

Es ist ein mythischer Loft mit Fresken an den Wänden, aus denen sich Schatten zu lösen scheinen.

 

Olia selbst hat das Fotografieren von einem Obdachlosen in Harlem gelernt. Er fotografierte Füße: auf den Bildern ist nicht zu erkennen, ob sie ankommen oder weggehen.

Der Besitzer einer Bar, die Askia gerne aufsucht, hat sich ein ganzes Archiv mit Kinderfotos angelegt, diese Gesichter sind seine Familie, seine Heimat in Paris geworden.

Und schließlich trifft er einen Mann wieder, den er aus Togo kennt, der derselben Gruppierung angehörte wie Askia,

auch er fotografiert. Allerdings keine fröhlichen Gesichter, sondern die Beweise, einen Auftrag erledigt zu haben.

 

Immer wieder stellt Olia die Frage: "Wer bist du, Askia?"

Diese "reichte so weit zurück, daß er nicht mehr wirklich sagen konnte, ob das alles wahr war. Reichte zurück zu den Wegen und Straßen durch das Land und durch die Städte, zur Wanderschaft durch den Nebel, zu den glutheißen Tagen und eiskalten Nächten ..." Mit Sicherheit weiß er nur, dass sie überall die "schmutzigen Füße" genannt wurden. 

 

Wie der Staub den Füßen, ist seiner Seele die ewige Suche,

die mehr und mehr einer Gespensterjagd gleicht, einge-schrieben. Immer fraglicher wird, ob es den Mann mit dem weißen Turban wirklich gibt, ob er eine historische Figur ist, oder ob er "in das Fresko zurückgekehrt" ist...

 

Die Sprache ist leise, kunstvoll, eindringlich. Die Figuren sind allesamt solche, die noch nicht angekommen sind, es wahrscheinlich nie werden. Der Roman schildert den Schmerz seines Helden, und doch ist es nicht nur das Schicksal dieses einen Mannes, das er erzählt. Askia ist eine universale Figur mit einer universalen Geschichte. Diese Geschichte endet nicht mit der letzten Seite, sie geht weiter, solange Menschen gezwungen sind, auszuwandern.

 

Edem Awumey, geboren 1975 in Togo, heute in Kanada lebend, ist ein hochinteressanter Autor. Allen LeserInnen sei auch sein Roman "Nächtliche Erklärungen" ans Herz gelegt.

Dieser spielt in Afrika und Kanada, auch er ist ein beein-druckender Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Edem Awumey: Die schmutzigen Füße

Aus dem Französischen übersetzt von Stefan Weidle

Weidle Verlag, 2021, 160 Seiten

(Originalausgabe 2009)