Albert Camus - Der erste Mensch

 

 

Diese Autobiographie erschien 34 Jahre nach dem Tod des Autors. Als er bei einem Autounfall 1960 um Leben kam, fand man den handgeschriebenen Text in einer Mappe. 

Camus Witwe erstellte eine erste Abschrift, alles, was nicht eindeutig zu entziffern war, steht bei den folgenden Ausgaben in Klammern, stellenweise gibt es noch extra Anmerkungen dazu.

Der Text wurde also nicht vom Autor zuende geschrieben, überarbeitet, geglättet und stilistisch ausgefeilt.

Sein Reiz liegt vielmehr darin, zu erfahren, wie dieser berühmte Mann, der 1957 den Nobelpreis für Literatur bekam, seine Kindheit in ärmsten Verhältnissen erlebte. 

 

Camus nennt sein alter ego Jacques. Dieser wird im Herbst 1913 in einem winzigen Dorf, mehr als 24 Stunden Zugfahrt von Algier entfernt, geboren. Seine Eltern waren kaum auf dem Hof, dessen Verwaltung der Vater übernehmen sollte, angekommen, da kam auch schon Jacques zur Welt. Den vier Jahre älteren Bruder hatten sie bei der Großmutter in Algier zurückgelassen, um sich erst einmal am neuen Ort einzuleben.

Jacques Mutter stammt von menorquinischen Einwanderern ab, der Vater von elsässischen, sie sind froh, auf diesem Hof eine Bleibe gefunden zu haben. 

(Im Zusammenhang mit der Herkunft der Eltern sind auch einige wichtige Gedanken zum Thema "Kolonialisierung" zu lesen).

 

Im 2. Kapitel macht der Autor einen Sprung um 40 Jahre nach vorne: Jacques steht erstmals am Grab seines Vaters. Dieser fiel schon 1914 in Frankreich, da war er gerade mal neunundzwanzig Jahre alt.

Als Jacques am Grab steht, wird ihm zum ersten Mal klar, dass der hier begrabene Mann jünger war als er selbst. Und das bringt für einen Moment die gewohnte Ordnung durcheinander, er empfindet nicht das Mitleid eines Sohnes für den verstorbenen Vater, sondern des eines Erwachsenen für ein ermordetes Kind:

 

"Die Abfolge der Zeit selbst zerbrach rings um ihn, den bewegungslos zwischen den Gräbern Stehenden, die er nicht mehr wahrnahm, und die Jahre hörten auf, sich jenem großen Strom folgend anzuordnen, der seinem Ende entgegenfließt."

 

Ihm wird klar, und darauf kommt er in diesem Buch immer wieder zu sprechen, dass er ein Mensch ohne Vater ist, einer, den kein Vater anleitet, ins Leben begleitet oder beschützt. Insofern ist er der erste Mensch. Er hat sich selbst aufgebaut. Nun, am Grab, stürzt dieser Glaube in sich zusammen, übrig bleibt ein "verängstigtes Herz".

 

Nachdem der Vater gefallen ist, kehrt die Mutter mit Jacques nach Algier zurück, sie leben bei der Großmutter. Diese führt das Regiment im Haus, in dem auch noch ein Onkel lebt, ein weiterer täglich zum Essen kommt. Die Familie ist bitterarm. Jacques halb taube Mutter, die nie die Hand gegen ihre Kinder erhebt (das tut die Großmutter zur Genüge), leidet genau so unter den Verhältnissen wie ihre Söhne.

Selbst einfache Spiele wie Fußball sind verboten, weil das die Schuhe abnützt. Doch natürlich finden die Kinder auch Wege, sich zu entziehen, durch die Gassen zu tollen und sich zu vergnügen.

Insofern erscheint die Kindheit nicht als eine ganz und gar unglückliche. Viel Zuversicht gibt Jacques die Liebe zu seiner Mutter.

 

Und er hat das Glück, einen wunderbaren Lehrer zu haben. Dieser wird ihm Wegweiser, Wegbereiter.

Er sorgt dafür, dass Jacques mit zehn Jahren ans Lycee kommt, mit Hilfe eines Stipendiums. 

Das gibt ihm zu Hause eine besondere Stellung, die hat er aber auch am Gymnasium.

 

"Im Zusammensein mit Didier (ein Klassenkamerad) begriff Jacques, was eine französische Durchschnittsfamilie war. ... Wenn er von Frankreich sprach, sagte er "unser Vaterland", ... während dieser Begfriff für Jacques ohne jeden Sinn war ..., ein wenig so wie jener Gott, von dem er außerhalb seiner Familie hatte sprechen hören. ... Jacques fühlte sich einer anderen Art zugehörig, ohne Vergangenheit, ohne Familienwohnsitz, ohne mit Briefen und Fotos vollgestopften Dachboden, theoretischer Bürger einer ungenauen Nation, wo Schnee auf den Dächern lag, während sie selbst unter einer beständigen, grausamen Sonne aufwuchsen, ausgestattet mit einer allerelementarsten Moral, die ihnen zum Beispiel Diebstahl verbot, ... Kinder, die von Gott nichts wussten und von denen Gott nichts wusste, unfähig, sich das zukünftige Leben vorzustellen, weil ihnen das gegenwärtige Leben unter dem Schutz der gleichgültigen Gottheiten Sonne, Meer oder Elend so unerschöpflich erschien."

 

Mit großer Gier verschlingt Jacques alle Bücher, die er in der Stadtbücherei ausleihen kann. Seine Vorliebe gilt den Helden- und Abenteuerromanen, was aber auch daher kommt, dass in der Bücherei kaum etwas anderes vorhanden war. Er eignet sich also keinen "Bildungskanon" an, fühlt sich nach wie vor seinem Stadtviertel zugehörig.

 

Das beeindruckende letzte Kapitel "Sich selbst unklar" fasst viele Gedanken des Buches zusammen.

 

"Oh ja, so war es, das Leben dieses Kindes war so gewesen, das Leben auf der armen Insel des Viertels war so gewesen, zusammengehalten durch die blanke Not in einer behinderten und unwissenden Familie, mit seinem brausenden jungen Blut, einem unersättlichen Lebenshunger, der ungestümen, gierigen Intelligenz, und während der ganzen Zeit ein Freudenrausch, der nur unterbrochen war von plötzlichen Schlägen, die eine unbekannte Welt ihm versetzte und die ihn in Ratlosigkeit stürzten, von denen er sich aber schnell erholte, danach trachtend, diese Welt, die er nicht kannte, zu verstehen, kennenzulernen, sich anzueignen, und die er sich tatsächlich aneignete, weil er sie gierig in Angriff nahm, ohne zu versuchen, sich in sie einzuschleichen, gutwillig, aber nicht unterwürfig und ohne dass es ihm letztlich je an einer ruhigen Gewissheit fehlte, einer Sicherheit, ja, denn sie stellte sicher, dass er alles, was er wollte, erreichen würde, und dass nichts, was von dieser Welt ist und nur von dieser Welt, ihm jemals unmöglich sein würde, sich darauf vorbereitend (und auch durch die Kargheit seiner Kindheit darauf vorbereitet), sich überall zu Hause zu fühlen, weil er sich kein Zuhause wünschte, sondern nur Freude, freie Menschen, Kraft und alles, was das Leben an Gutem, Geheimnisvollem und dem hat, was man nicht kaufen kann und nie wird kaufen können."

 

Dieser kraftvollen, selbstbewusst-kühnen Art, auf das Leben zu schauen steht eine andere entgegen:

 

"Aber es gab auch den dunklen Teil des Seins, das was sich während all dieser Jahre dumpf in ihm geregt hatte... Und diese blinde Regung in ihm, die nie aufgehört hatte, die er noch jetzt spürte, ein in ihm verborgenes schwarzes Feuer, wie eines jener an der Oberfläche erloschenen Torffeuer, deren Verbrennung im Innern weitergeht und die äußeren Risse im Torf und jenes niedere pflanzliche Gären verschiebt, so dass die morastige Oberfläche dieselben Bewegungen hat wie der Torf in den Sümpfen, und aus diesen zähen, unmerklichen Verwerfungen entspringen in ihm noch immer Tag um Tag die heftigsten und schrecklichsten seiner Begierden, wie seine dürrsten Ängste, seine fruchtbarsten Sehnsüchte, sein plötzliches Verlangen nach Kargkeit und Nüchernheit, auch sein Bestreben, nichts zu sein, ja, diese dunkle Regung all diese Jahre hinduch harmonierte mit diesem gewaltigen Land um ihn herum, dessen Druck er als Kind verspürt hatte mit dem unermesslichen Meer vor ihm und hinter ihm diesem unendlichen Raum mit Bergen, Hochebenen und der Wüste..."

 

Aus dieser Kindheitsgeschichte und den beiden langen, umfassenden Zitaten lassen sich Grundthemen Camusscher Philosophie herauslesen: das Absurde und die Revolte.

 

Das Leid in der Welt ist absurd, es kann kein Sinn darin gefunden, durch keinen Gott rechtfertigt werden.

Der Mensch sucht nach einem Sinn, den die Welt nicht an sich hat, das ist das Gefühl des Absurden. 

Diese Absurdität kann er überwinden, indem er sie akzeptiert und sich unabhängig von Gott ein eigenes Schicksal erschafft.

Er bleibt also "trotz allem" ein Handelnder, im besten Fall sogar ein Glücklicher.  

Sinnbild für diesen absurden Menschen ist Sisyphos, der die Absurität angenommen hat und immer wieder und weiter seinen Stein den Berg hoch wälzt.

Wie ein Künstler, der nicht aufhört, seine Gestaltungskräfte und Möglichkeiten weiterzuentwickeln.

 

 

 

 

 

Albert Camus: Der erste Mensch

Aus dem Französischen von Uli Aumüller

Rowohlt-Tb, 2013, 285 Seiten

(Französische Erstveröffentlichung 1994)