Karl Friedrich Borée - Frühling 45

Chronik einer Berliner Familie

Karl Friedrich Borée debütiert spät:

sein erster Roman "Dor und der September" erscheint 1930,

da ist der Autor bereits 44 Jahre alt.

Der studierte Jurist und Offizier des Ersten Weltkrieges wird mit diesem Buch schlagartig bekannt, kurzzeitig sogar berühmt. Er arbeitet nur noch nebenbei als Anwalt, widmet sich dem Schreiben. 1936 erscheint sein Roman "Quartier an der Mosel". Dieser wird verboten. Damit verschwindet ein ungewöhnlicher und eindrücklicher Antikriegsroman, "der die Sinnlosigkeit des Krieges zudem ganz ohne Schlachtgeschehen darzustellen weiß" und wird "letztlich erfolgreich aus der deutschen Literaturgeschichte gestrichen." Obwohl er weiter schreiben und veröffentlichen kann, ist Borée nun ein "unerwünschter Schriftsteller" und gerät in die "Versenkung publizistischer Vergessenheit."

Nach 1945 arbeitet er aktiv am Aufbau eines neuen Literaturlebens mit, bekleidet hierfür diverse Ämter, doch

als Schriftsteller kann er nirgends anknüpfen: er gehörte während der Nazi-Zeit keinen literarischen Kreisen an,

nach dem Kriegsende gehört er nicht zu den jungen Autoren,

die sich zusammenschließen, wie diejenigen der Gruppe 47.

 

"Frühling 45" erscheint 1954 - zu früh. Die Menschen sind noch nicht bereit, sich so schonungslos, direkt, alltagsnah und zugleich philosophisch-grundlegend mit den Jahren der Nazidiktatur zu beschäftigen. Auch oder vor allem nicht mit deren Ende. Jetzt, mit der Neuauflage, bleibt zu hoffen, dass dieser Autor endlich seine Leserschaft findet, denn er hat viel zu erzählen und tut dies außergewöhnlich gut.

 

"Frühling 45" wird erzählt von Herrn Stein. Er ist in den Fünfzigern, arbeitet als Archivar bei einer großen Bank mitten in Berlin, nachdem es für ihn schwierig geworden ist, seine Texte zu veröffentlichen. Er lebt mit seiner Frau Friederike und der Tochter Maximiliane in Charlottenburg.

Maximiliane ist achtundzwanzig, sie hat am Anfang des Krieges geheiratet. Ihr Mann musste kurz darauf einrücken, die beiden haben sich seit langer Zeit nicht gesehen.

Der Sohn der Steins, Robert, befindet sich in Kriegsgefangen-schaft in den USA.

Mitte Februar 45 erhält Stein einen Anruf: in einem ruhigen Vorort Berlins, in Föhren, ist ein Haus frei geworden.

Familie Stein kann dorthin ziehen. Das heißt nichts Geringeres, als die Vorhölle verlassen zu können.

Noch verkehren die Züge, Stein und Maximiliane können täglich zur Arbeit in die Stadt fahren.

 

"Wir traten in eine andere Welt: aus der Welt der beklemmenden Menschenmenge und des drohenden Steins in eine Welt der geräumigen, atmenden Natur."

 

Die Hausbesitzer, reiche Spediteure, haben sich abgesetzt.

Lediglich Flitta, das Hausmädchen, und ein schon etwas ramponierter Hund sind noch da. Flitta empfängt die "Ausgebombten" freudig, zur noch größeren Freude allerdings stellt Stein fest, dass es eine wohl gefüllte Speisekammer gibt. Die ist zwar verschlossen, doch die eine oder andere Flasche Wein und sehr viele Zigarren finden ihren Weg in Steins Hände. Sie sind wunderbare Tauschmittel und bewahren die Familie Stein letzten Endes vor dem Schlimmsten.

 

Friederike leidet unter dem Verlust ihres Besitzes.

"Ich erkannte mit Staunen, wie gleichgültig mir dieser Punkt war; ich hatte mich schon ganz von unserer bisherigen Existenz gelöst. Ich dachte nur noch an  jetzt und an morgen. Das Tor der Hoffnung faszinierte mich, das sich mit einem Spalte auftat. Aber für Friederike würde der Verlust unserer Möbel, unserer Teppiche und Bilder ein Begräbnis sein, der Untergang einer Lebensform, die sie uns gegeben hatten."

 

In diesen wenigen Zeilen ist eine Art Umriss des Romans,

der auf Borées Tagebuch beruht, gegeben.

Friederikes Augenmerk ist auf die Rettung und Erhaltung

der Familie gerichtet, wozu auch der Besitz gehört.

Sie repräsentiert das Menschliche in Bezug auf Praxis und Alltag. Sie ist eine mitfühlende Frau, eine sehr liebe Person, die keine Arbeit unverrichtet lässt und auch kein Risiko scheut, wenn es um das Wohl eines Menschen geht.

 

Stein selbst versucht weiterhin seine Gedanken mit Hilfe von Texten zu ordnen, die er liest oder schreibt. Er versucht,

die Geschehnisse zu erfassen, führt lange philosophische Gespräche mit seinem Freund Schwebel, stellt grund-sätzliche Überlegungen an, was in Deutschland passiert, und was sich verändern muss, wenn die furchtbare Zeit vorbei ist. Natürlich beteiligt er sich an der Beschaffung von Nahrung, er hackt Holz und fährt mit dem Handwagen dorthin, wo es irgendetwas zu holen gibt. Aber immer geht sein Blick auf das oben zitierte "Tor der Hoffnung", denn wichtig sind nicht die Biedermaiermöbel, sondern die Formen des Denkens und Handelns nach der Stunde Null.

 

Stein hat sich nicht politisch betätigt, keiner Widerstands-gruppe angeschlossen, er nennt sich einen "Frondeur der Theorie." Aber er ist ein "politisch Aufrechter" gewesen.

Er - und nicht nur er  - erwartet die Russen mit größten Hoffnungen. Und fast genauso großen Ängsten.

Gerüchte machen die Runde. Die Russen hätten allen Grund, sich zu rächen an den Deutschen.

 

Wie durch ein Wunder bleiben die Frauen des Hauses weitgehend verschont von Übergriffen während des Einmarsches aus dem Osten. Die Freude überwiegt, das Leben war fast unmöglich geworden.

Der Übergang von einer noch erstaunlich organisierten und funktionierenden Welt (Bahnverkehr, Nahrung, Wasser etc) in eine des blanken Überlebens mit Methoden aus vorzivili-sierten Zeiten beschreibt Borée großartig. 

Präzise, faktenreich, gleichzeitig die Nöte und Hoffnungen der Menschen reflektierend und damit sowohl Porträts der Einzelnen und ihrer unterschiedlichen Arten des Umgangs mit der Katastrophe aufzeichnend, als auch ein historisches Bild der Zeit darstellend, in all ihren Facetten.

 

Ab April sind Fahrten in die Stadt nicht mehr möglich.

Es werden auch alle Hände zu Hause gebraucht, die damit beschäftigt sind, den Alltag zu bewältigen.

Steins nehmen noch Fräulein Helene Busch auf, Steins Sekretärin aus der Bank. Sie war alleinstehend, findet nun Schutz und erweitert den engen Familienkreis.

 

Helene wird eine wichtige Rolle in Steins Leben spielen.

Mit Beginn der neuen Zeit träumt er auch von neuen Möglichkeiten des privaten Lebens. Er ist bereit, eine Lebens-form zu erproben, die nicht an der althergebrachten Idee von Ehe und Familie klebt. Doch das steht schon fast auf einem anderen Blatt Papier...

 

Auf die Russen folgen die Engländer in Föhren.

Sowohl Stein, als auch Friederike, Maximiliane und Helene bemühen sich um Arbeit, finden sie auch. Doch wirkliche Perspektiven tun sich für Stein erst auf, als die Franzosen,

die als dritte Verwaltungsmacht über die Kleinstadt am Rande Berlins das Verbot, in die Stadt zu fahren, aufheben.

Er nimmt Kontakt zu den Amerikanern auf und erhält die Garantie, eine Zeitschrift herauszugeben. 

"Der Neue Anfang" ist ihr Titel.

 

Die Übergangszeit ist geprägt von Gewalt und Lügen, (Selbst)Morden, Einquartierungen, Hunger, Verhaftungen, 

persönlichen Verwerfungen.

Von Suche, überraschender Hilfe und Neubeginn.

Borée liefert eine Fülle an Informationen, seine Haltung ist unmissverständlich.

Er porträtiert eine sehr schwierige Zeit und wirft damit ein helles Licht auf das Ende des Krieges in Berlin und Deutschland. Er stellt mit seinen Überlegungen zu Ethik und Moral auch unsere Zeit, unsere Haltungen, in Frage.

 

Er ist ein großer Erzähler, ein großer Aufklärer und ein Mann mit Weitblick und Empathie.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Karl Friedrich Borée: Frühling 45

Lilienfeld Verlag, 2017, 464 Seiten