Michael Köhlmeier - Zwei Herren am Strand

Zwei Herren, die unterschiedlicher nicht sein könnten, verlassen gemeinsam eine Party, um am Strand spazieren zu gehen. Es ist das Jahr 1927, der Ort Santa Monica. Beide Herren sind berühmt: der eine ist Politiker, stammt aus der englischen Oberschicht, er wird Großbritannien durch den Weltkrieg führen.

Der andere, ebenfalls Engländer, aber aus bescheidensten Verhältnissen, ist der bekannteste Schauspieler und Regisseur seiner Zeit, auch er wird seinen Beitrag zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus 

leisten.

 

Winston Churchill (1874-1965) und Charlie Chaplin

(1889-1977), stehen einander politisch diametral gegenüber.

"Dass der eine in Gandhi einen nackten Fakir ohne Bedeutung sah, der andere aber einen großen Politiker, der dem Empire noch mächtig zusetzen könnte; dass der eine dem Kommunismus zutraute, die Ungerechtigkeit abzuschaffen, der andere ihn als eine Maschine zur gleichmäßigen Verteilung des Elends bezeichnete; dass der eine erst vor einem Jahr gefordert hatte, den Generalstreik der britischen Arbeiter mit Gewalt niederzuschlagen, während der andere von Amerika aus seine Solidarität mit den Gewerkschaften telegrafiert hatte; dass der eine der amtierende Schatzkanzler seiner Majestät war, der andere der berühmteste Schauspieler seit es die Schauspielkunst gab - das alles war ganz egal. Sie hatten einen gemeinsamen Feind, der saß in ihnen...- er saß in ihnen, und diesem Feind galt ihre Allianz; alles andere stand nicht zur Diskussion und würde nie zur Diskussion stehen."

 

Dieser innere Feind, sie nennen ihn den "schwarzen Hund", ist die Depression, unter der beide Herren immer wieder leiden. Bei jenem Spaziergang in Santa Monica versprechen sie sich gegenseitig Trost, wann immer der Hund wieder vor der Tür oder neben dem Bett stehen sollte.

Jeder verpflichtet sich, herbeizueilen und dem Freund beizustehen, egal wo und in welcher Situation er sich befindet. Das heißt unter Umständen, den Atlantik zu überqueren, und das geschieht dann auch. 

 

Inhalt ihrer Gespräche, "talk-walks" oder auch "duck-walk-talks" genannt, ist kein geringerer als das Thema Freitod.

Techniken, Motive, die letzten Stunden berühmter Selbstmörder werden besprochen, der eigene gegenwärtige Zustand damit abgeglichen.

 

Auf welche Quellen stützt sich der Erzähler?

Es gibt zwei Dokumente, aus welchen er seine Kenntnisse bezieht.

Zum einen sind es Briefe, die Churchills "privatester Privatsekretär" , Willim Knott, einst von diesem eingestellt, um seinen Selbstmord zu verhindern, an den Vater des Erzählers schrieb. Dieser ist ein Beamter der Marktaufsicht, im Herzen aber Historiker und Churchill-Forscher und Kenner. Bei einem Kongress freundet er sich mit Herrn Knott an, ein Briefwechsel beginnt. Nach dem Tod des Vaters findet der Ich-Erzähler (studierter Lehrer, später Spaßmacher) dieses Konvolut und erhält intimste Einblicke in das Leben des großen Mannes.

Und, welch ein Zufall, als Kind begegnete der Vater beiden, Churchill und Chaplin, bei einem Workshop für Clownerie in einer kleinen Stadt in Süddeutschland. Sie beherbergte eine Schule der Clowns, dort half der Vater dem ungeschickten Herrn (er ist sich ganz sicher, dass es Churchill war, auch wenn der seinen Namen nicht nannte) bei einem Trick.

Die andere Quelle ist das Buch "Chaplins Tugend" von Josef Melzer, das der Erzähler antiquarisch erwarb. Es enthält ein langes Interview, in dem Chaplin seine geheimsten Gedanken preisgibt und genauestens und mit allerbester Erinnerung aus seinem Leben berichtet. Hieraus zitiert der Erzähler, hieraus schöpft er sein Wissen.

 

Es erübrigt sich zu erwähnen, dass weder William Knott noch Josef Melzer existieren. Die alte literarische Tradition, Briefe in einer Schatzkiste gefunden zu haben, oder nach Jahrzehnten auf ein geheimes Tagebuch gestoßen zu sein - Garanten für die Wirklichkeit - wirkt auch hier:

sie verleiht der Phantasie höchste Glaubwürdigkeit.  

 

Es wäre müßig, darüber zu diskutieren, welches Detail nun stimmt und welches nicht. Wer das wissen möchte, lese zwei Biographien. Dieser Roman verficht seine eigene Wirklichkeit. In einer hochinteressanten Doppelstruktur breitet er ein historisches Tableau aus, das in sich schlüssig und glaubwürdig ist.

 

Jede Person in diesem Buch spielt zumindest eine Doppelrolle.

Der Vater des Erzählers ist Beamter und Historiker,

der Erzähler selbst Lehrer und Komiker, nun auch noch Schriftsteller. Churchill ist nicht "nur" Politiker und Schriftsteller (Nobelpreis für Literatur 1953) er malt auch.

Chaplin, der Schauspieler und Regisseur, spielt in seinem Hauptwerk Der große Diktator Hitler und den "Zappeljuden."

Die beiden Quellen Knott und Melzer, die Felder Kunst und Politik und, der Kern der Geschichte: der Kampf gegen den schwarzen Hund und gegen Hitler, die persönliche Geschichte, die Weltgeschichte, alte und neue Welt - sie alle sind in diesem Roman meisterhaft miteinander verwoben.

 

In fünf Teilen, der erste beschreibt die Entstehung der Freundschaft, zweiter und dritter Chaplins und Churchills Lebensgeschichte, im vierten steht der Film "Der große Diktator" im Mittelpunkt und im letzten Churchills Rolle im Krieg, zeichnet Köhlmeier ein doppelbödiges Bild des Zwanzigsten Jahrhunderts, des Lebens.

 

Häufige Ortswechsel, Stimmungswandel und ein Wandel der öffentlichen Wahrnehmung der beiden Herren geben dem Roman ein hohes Tempo, ohne ihn gehetzt wirken zu lassen.

Tragik und Komik sind perfekt ausbalanciert, besonders anrührend ist die Beschreibung der Methode des Clowns.

Gegen den schwarzen Hund helfe es, sich einen riesigen Bogen Papier zu besorgen, auf diesen lege man sich nackt und schreibe spiralförmig von außen nach innen einen Brief an sich selbst. Transzendenz in Lächerlichkeit?

Eine von Buster Keaton entwickelte Methode, angewandt von Chaplin wie auch von Churchill (so ist es in diesem Roman zu lesen).

 

Der Autor überlässt die letzten Seiten seinem Erzähler. Dieser hat ein Komikerduo entwickelt, mit dem er auftritt: Weißclown und der aus dessen Hand sich bewegende August.

 

"Weißclown und August unterhielten sich über verschiedene Methoden, dem Selbstmord zu entgehen. Und sie unterhielten sich auch über die Methode des Clowns.

Der Weißclown erzählte das alte indianische Schöpfungs-

märchen, das von dem Gott berichtet, der aus Langeweile die Welt erfindet, indem er, auf dem Bauch liegend und sich im Uhrzeigersinn drehend, alle Geschehnisse der Zeit - beginnend bei der Trennung von Licht und Dunkel, von Wasser und Land, ... weiter zur ersten Liebe, zum ersten Hass, ... zum ersten Erkennen eines Zusammenhangs -, indem er alles, was geschieht, in einer Spirale aus Bildern und Zeichen in den Stein ritzt, und dass die Welt untergehen wird, wenn er, an seinem Bauch angekommen, nicht mehr weiterzeichnen kann. Der August erzählte dagegen von der Freundschaft zwischen dem größten Staatsmann und dem größten Schauspieler; wie die beiden gemeinsam gegen den schwarzen Hund kämpften und gemeinsam gegen Hitler kämpften, der eine mit Lachen, der andere mit Krieg."

 

Der Blick des Schauspielers und des Politikers ganz am Ende richtet sich aus dem Dunkeln ins Licht. Das blendet.

Und schmerzt.

Der Blick des Lesers auf die beiden Herren und auf die Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts, geführt von Michael Köhlmeier, offenbart ihm vom tiefsten Schmerz bis zur höchsten Komik die ganze Welt.

 

 

 

 

 

 

 

 

Michael Köhlmeier: Zwei Herren am Strand

Hanser Verlag, 2014, 256 Seiten

dtv, 2016, 272 Seiten