Sarah Elena Müller - Bild ohne Mädchen

Dieser intensive, atmosphärisch unheimlich dichte Roman erzählt von einem Mädchen, dessen einziger Halt ein Engel ist. Zu Beginn des Romans ist sie fünf, im Kindergarten hat sie keine Freunde, auch später in der Schule nicht. Sie hat keine Geschwister, die Eltern sind mit sich selbst beschäftigt. Der Vater, ein Biologe, konzentriert sich auf die Rettung bedrohter Tierarten, die Mutter, eine Bildhauerin, geht in der Kunst auf, die Großeltern sind pflegebedürftig. Das Mädchen spricht wenig, ist Bettnässerin, entwicklungsverzögert. 

 

Und doch ist sie auch ein aufgewecktes Kind, das sich viele Gedanken macht, neugierig ist, versucht, all das zu verstehen, was die Erwachsenen sagen und tun. 

Und sie ist fasziniert von Bildern, bewegten Bildern. Fernsehen darf sie zu Hause nicht, das mache dumm und traurig, sagt die Mutter, aber sie darf zum Nachbarn gehen. Dort versinkt sie in den Filmen, hier werden ihr keine Grenzen gesetzt.

 

Der Nachbar Ege, ein ehemaliger Professor aus Berlin, hat in dem Schweizer Dorf eine "Praxis für Medientheorie" eröffnet. Niemals kommt ein Kunde, so etwas braucht man hier nicht. Ihm ist das recht, das gibt ihm mehr Zeit zum Trinken, Rauchen, Filme machen, an seinem "Lebenswerk" arbeiten. Den Alltag hält seine Partnerin Gisela aufrecht, sie ist sein "Satellit". 

 

Ege setzt nicht nur dem Kind keine Grenzen, er akzeptiert auch für sich selbst keine. 

"Ege, der um alle bürgerlichen Denkschranken erleichterte Theoretiker, dessen unzähmbares Lustprinzip die revolutionäre Botschaft von der Großstadt in die kleine Schweiz brachte ... forderte stets konsequente Promiskuität."

 

Bald sitzt das Kind nicht mehr nur vor dem Fernseher, es steht vor der Kamera, Gisela filmt. Und fragt sich, ob "sie nicht die verdeckte Herrscherin dieser Vorhölle" sei. Die alten Filme, die er noch mit seinem Sohn drehte, will Ege nun nicht mehr sehen, sagt er zu Gisela, "Tempi passati. Jetzt gäbe es ja frische Bilder mit dem frischen Nachbarskind."

 

"Tempi passati" ist eine von ihm gern gebrauchte Wendung, um sich der Verantwortung zu entziehen.

 

Alleine der Engel steht dem Kind bei:

"Der Engel reiht die Zusammenhänge im Mädchen auf wie Perlen auf einer Schnur. 

`Verstehst du? Ich bin dein Racheengel. Ich bin auch der Racheengel des Sohns. Um dein Schutzengel zu sein, war ich zu spät, aber seither bin ich da. Und jetzt geht heim, Unke. Ich muss hoch zu Ege.´"

 

Den ganzen Roman hindurch geht es für das Mädchen darum, Zusammenhänge zu finden, richtig herzustellen, manche sind "zerhackt" wie beschädigte Kassetten auf denen Bilder fehlen. Manchmal "summt sein Kopf vor hausge-machten Zusammenhängen", die nicht der Logik anderer Menschen folgen. 

Es geht um Werden und Sein, das Mädchen begehrt auf gegen das "unbarmherzige Werden", in dem "alles auf einen einzigen, engen Punkt zusammenlaufen" wird. Das ist für sie "Verrat". Sie will frei sein in ihrer Entwicklung, der Vorbe-stimmung entrinnen.

Die Themenfelder "Vorstellung", "Erscheinung",  "Sinnes-täuschung" werden beleuchtet, "Innen und Außen" betrachtet. 

Durchgängig ist der Satz "Alles hat seinen Preis" zu lesen.

Er ist wie ein Seil, das die Erwachsenen immer wieder um den Hals des Mädchens legen, der Satz ist eine Rechtferti-gung und ein Versuch, Verantwortung abzuweisen, dem Kind die Schuld zuzuschieben.

 

"Das Kind zählt eins und eins zusammen. Es ist logischer-weise die Schuld des Botenjungen (Rolle des Kindes in Eges Film "Warten auf Godot"). Er hätte es wissen müssen. Auf wen sie warten und dass er nicht kommt. Dann hätten sie auch nicht warten brauchen. Alles hat seinen Preis. Logisch, logisch", sagt es zum Engel. "Logisch, logisch ... murmelt das Kind leise. `Ege hat sich mit mir die Zeit vertrieben. Wir können das nachspielen, wenn du willst´."

 

Sarah Elena Müller schafft in ihrem Roman von der ersten Seite an eine Stimmung, die deutlich macht, dass hier Ungutes geschieht. Sie legt Fährten, gibt Hinweise, deutet an, es ist die Aufgabe der Lesenden, diese zu einem vollständigen Bild zusammenzufügen. Sie wählt kluge Wege, um das Mädchen nicht bloßzustellen, ihre Verstörung jedoch deutlich zu machen. Sie wählt ebenso kluge, um aufzuzeigen, wie die Welt der Erwachsenen funktioniert bzw. nicht funktioniert.

 

Der Mitte der 1980er-Jahre beginnende Roman erzählt implizit von den Auswirkungen und Unsicherheiten der sexuellen Befreiung der späten Sechziger Jahre, diese fangen bei einem sehr missglückten Versuch an, die Tochter aufzu-klären und enden bei einer völligen Blindheit Missbrauch gegenüber. 

 

Der letzte des aus fünf Teilen bestehenden Romans trägt die Überschrift "Die junge Frau". Darin gibt es ein Kapitel, das vom "Absprung" erzählt.

 

Die 1990 geborene Autorin ist eine vielseitige Künstlerin, dieses Buch ihr Debütroman nach diversen Erzählbänden.

Er ist verstörend, bestens komponiert, er verlangt Konzentration und er ist einer der Romane, die man mehr als einmal lesen wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sarah Elena Müller: Bild ohne Mädchen

Limmat Verlag, 2023, 208 Seiten