Hanns-Josef Ortheil - Das Kind, das nicht fragte

Benjamin Merz ist knappe vierzig, als jüngstes von fünf Kindern immer noch der kleine Bruder mit vier großen Brüdern, die alle mit Argusaugen über ihn wachen. Er ist Ethnologe (hat also keinen "richtigen" Beruf) und lebt noch immer im elterlichen Haus in Köln.

In einer bescheidenen Dachwohnung,

die Mieteinnahmen der anderen Wohnungen bilden die Grundlage seines Einkommens. 

 

In Fachkreisen hat er sich einen Namen gemacht, er hatte auch verschiedene Lehraufträge, er war mit mehreren Frauen liiert, die große Liebe war nicht dabei. Er ist eher schüchtern und zurückhaltend,  ist es gewohnt, übergangen zu werden. Die Brüder sind einiges älter und ihm weit voraus. Selten kommt er zu Wort, wenn die Familie beim gemeinsamen Essen sitzt, er traut sich bald nicht einmal mehr, irgendeine Frage zu stellen, geschweige denn, von sich aus etwas zu erzählen. Die Mutter, fast immer die "liebe Mutter" genannt, versucht, ihn zu beschützen, aber sie kann nicht immer dabei sein, vor allem nicht, wenn die Brüder ihn drangsalieren. 

Benjamin zieht sich zurück, schweigt und beobachtet.

 

Nun - und hier setzt der Roman ein - reist er nach Sizilien. 

Er will Mandlica, die Stadt der Dolci, ihre Bewohner und Gewohnheiten, ihr Gesicht und ihr Herz für eine ethnologische Studie erkunden.

Er nimmt Quartier in einer kleinen Pension, kommt auch gleich in Kontakt mit der Eigentümerin Maria, einer Frau,

die vor vielen Jahren aus Bayern nach Sizilien kam und blieb.

Sie plaudert gerne in gibt ihm erste Einblicke.

 

Er lernt den Buchhändler Alberto kennen, eine Quelle von unschätzbarem Wert, denn Alberto weiß alles und kennt jeden. So fängt Benjamin an, mit den Bewohnern der Stadt Gespräche zu führen, Fragestunden, in denen er ihnen durch geschickte Gesprächsführung ihr Wissen entlockt.

Er überwindet seine Hemmungen, denn eigentlich fällt es ihm immer noch schwer, Fragen zu stellen.

 

Bald ist er eine Berühmtheit in Mandlica. Die Menschen bitten darum, von ihm befragt zu werden, sie sehen ihn als einen Magier der Fragen an, als einen Hellseher.

Benjamin hat eine ganz eigene Art, Fragen zu stellen.

Er führt seine Partner so durch ein Gespräch, dass sie Zugang zu ihren verschütteten Erinnerungen finden, Wünsche äußern, die sie niemals aussprachen, fast in Trance geraten mit ihren Erzählungen und sich bei ihm so sicher fühlen, dass es niemals zu Peinlichkeiten kommt.

 

Benjamin selbst hatte ein persönliches Erweckungserlebnis: als er seine erste Beichte vor der Kommunion ablegen soll, führt der Priester ihn so einfühlsam durch die Beichte,

dass er dem Kind seine tiefsten Gedanken entlockt.

Ab da kultiviert Benjamin seine Fragen an Gott und schreibt die Antworten, die er bekommt, in Heften nieder. Es ist die "Geburtsstunde der Frage- und Antwortspiele."

Er lernt, ganz genau zu beobachten, Worte, Mimik und Gesten zu deuten und entwickelt im Lauf der Jahre das Instrument der "psychischen Landvermessung."

Diese gelingt, weil er die Fähigkeit entwickelt hat, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.

 

In Mandlica kann er alles, was er im Lauf seines Lebens gelernt hat, anwenden und vervollkommnen.

Er erfährt, dass er ein geschätzter Mensch ist, er genießt das gute Essen, er schwimmt nach vielen Jahren mal wieder im Meer, er hört auf, sich von seinen Brüdern dreinreden zu lassen (Anrufe beantwortet er immer kürzer und mit eindeutiger Absage an Einmischungsversuche).

 

Benjamin wird zu einem freien Menschen, dessen Leben sich zum Guten verwandelt.

 

Und natürlich findet er auch die Liebe: Paula, Marias Schwester, eine geheimnisvolle Frau, die er immer nur kurz sieht, zieht ihn fast magisch an.

Eine erste längere Begegnung ergibt sich, als Benjamin das Geburtshaus des Nobelpreisträgers Salvatore Quasimodo (geboren 1901 in Modica), besucht. Paula macht dort Führungen - diese Begegnung macht sie nur noch geheimnisvoller.

Nach dem ersten längeren Gespräch verschwindet sie tagelang. Wie sie später erzählt, musste sie zuerst Klarheit gewinnen, fuhr deshalb über die halbe Insel, und geht dann ganz direkt auf ihn zu.

 

Sie erzählt ihm von ihrer Liebe zu den sizilianischen Dichtern, die sie übersetzt, sie nimmt ihn mit auf ihr kleines Landgut, das sie sich gekauft hat, sie verrät ihm ihren Traum, ein Restaurant zu eröffnen und dort die ursprünglichen Gerichte Siziliens anzubieten.

All das fügt sich in das Leben Benjamins ein. Er hatte keine konkreten Pläne außer seiner Studie, nach und nach gibt er seine Vorstellung, nach Köln zurückzukehren, auf.

Er weiß nun, dass er dort nicht mehr hingehört.

Er ist am richtigen Platz angekommen - in Mandlica und im Leben.

 

Der Roman ist in die drei Teile "Der Morgen-Der Mittag-

Der Abend, die Nächte" gegliedert.

Auf die Ankunft folgt die Etablierung, das Bleiben. 

Die tiefe Übereinstimmung mit Paula öffnet schließlich auch Benjamins Herz, unter Qualen fängt er an, ihr von seiner Kindheit zu erzählen.

 

"Sieht sie in diesen ungemein schönen und wahren Momenten in mir das Kind? Und ahnt sie, dass dieses Kind einmal nicht fragen konnte und deshalb nie von sich erzählte?" 

 

So entwickelt sich nach dem Magier der Fragen und dem Autor von wissenschaftlichen Texten der Mann, der endlich lernt, zu erzählen. 

 

Ortheils vier ältere Brüder starben, bevor er selbst zur Welt kam. Über diesen Schmerz war die Mutter verstummt und auch er selbst hörte mit drei Jahren auf zu sprechen. Erst mit sieben fing er wieder damit an. Viele Jahre war die Musik seine Möglichkeit, sich auszudrücken. Den Berufswunsch, Pianist zu werden, musste er aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Er studierte dann Literaturwissenschaften, wandte sich also der Sprache zu. Seine Entwicklung beschreibt er in dem autobiographischen Roman "Die Erfindung des Lebens".

 

In dem vorliegenden Roman "Das Kind, das nicht fragte" spielt er nun wieder das Thema Sprache, Ausdruck, Erinnern durch, diesmal in einer Art, die so luftig ist wie ein sizilianischer Morgen, so köstlich wie die Mandlicaner Dolci, so gelungen wie Benjamins Leben.

Ein Leben, in dem sich schließlich alles findet und fügt, beschrieben in einer reichen Sprache, die jeder Person ihre eigene Melodie zugesteht und den Raum ausmisst, in dem Menschen zusammen leben können.

 

 

 

 

 

 

 

Hanns-Joseph Ortheil: Das Kind, das nicht fragte

Luchterhand Literaturverlag, 2012, 432 Seiten

btb-Taschenbuch 2014, 432 Seiten