Charlotte Perkins Gilman - Die gelbe Tapete

Dieser bis heute fest zum Kanon der angelsächsischen Erzählkunst gehörende Text erschien 1892.

Die Autorin verarbeitet darin ihre eigenen Erfahrungen, die sie nach der Geburt ihrer Tochter machte.

Es ist nicht ganz klar, ob sie an einer postpartalen Depression oder einer anderen psychischen Störung litt,

sie suchte jedoch die Hilfe eines Nervenarztes, der eine "Ruhekur" verordnete. Viel Bettruhe, weder körperliche noch geistige Tätigkeit war Kern der Behandlung. Maximal zwei Stunden Beschäftigung am Tag und nie nie wieder eine Feder zur Hand nehmen war die Anweisung des Arztes nach der Entlassung aus der Klinik. Perkins Gilman hielt sich daran. 

Bis der Drang nach geistiger Betätigung zu stark wurde, und sie wieder anfing zu schreiben. Ihr Zustand besserte sich darauf deutlich.

 

Die Erzählung ist der Bericht einer jungen Frau, die nach

der Geburt ihres Kindes an Erschöpfung und einer leichten "hysterischen Neigung" leidet. Ihr Mann John, ein angesehener Arzt, hat ein Haus auf dem Land gemietet,

um ihr die nötige Ruhe und Erholung zu verschaffen.

Das an ein viktorianisches Landhaus erinnernde Gebäude stand lange leer, ist von einem herrlichen Garten umgeben und hat das romantische Flair eines "Geisterhauses".

 

Die Erzählerin, die ohne Namen bleibt, und John ziehen in ein Zimmer im obersten Stockwerk. 

Es muss ein Kinder- und Turnzimmer gewesen sein. 

Die Fenster sind vergittert, das Bett ist festgeschraubt, der Boden zerkratzt, die Tapete teilweise von der Wand gerissen, ganze Brocken an Putz wurden ebenfalls aus der Wand gekratzt. Aber es ist ruhig und luftig, also genau das, was

die junge Frau nach Meinung ihres Mannes (und Bruders, ebenfalls ein Arzt) braucht.

 

"Was mich betrifft, ich bin anderer Ansicht. Was mich betrifft, glaube ich, dass eine angemessene Aufgabe, dass Begeisterung und Abwechslung mir guttun würden.

Doch was soll man schon machen? Eine Zeitlang habe ich geschrieben, ihnen zum Trotz; doch es im Geheimen zu tun oder ihre Ablehnung zu ertragen, strengt mich wirklich an."

 

In diesem hässlichen Raum verbringt sie viele Stunden am Tag. John geht zur Arbeit, Johns Schwester Jennie kümmert sich um den Haushalt. Schreibt die Erzählerin anfangs noch über ihre Familie oder äußert allgemeine Gedanke wie oben zitiert in der unpersönlichen Form des "man", so nimmt im Lauf der Geschichte das Muster der Tapete immer mehr Raum ein.

 

"Es ist öde genug, um das Auge zu verwirren, wenn man ihm folgt, aber auch ausgeprägt genug, um unablässig zu irritieren und zum Hinschauen zu zwingen, und wenn man den lahmen, unbestimmten Kurven ein Stück weit folgt, begehen sie plötzlich Selbstmord - brechen in unsäglichen Winkeln ab und heben sich in nie dagewesenen Widersprüchen auf. Die Farbe ist widerwärtig, geradezu ekelerregend; ein schwelendes, schmutziges Gelb, seltsam ausgebleicht vom langsam fortschreitenden Sonnenlicht."

 

Das Muster und seine Erkundung wird zur fixen Idee - und ist ein Ersatz für gelebtes Leben. Die junge Frau steigert sich so weit in das Muster hinein, dass sie meint, eine Frau verberge sich darin und sie müsse diese Frau befreien.

 

In einer letzten Szene sperrt sie ihren Mann aus dem Zimmer aus und wirft den Schlüssel nach draußen.

"Dann riss ich so viel Tapete herunter, wie ich erreichen konnte. Sie klebt unglaublich fest und dem Muster gefällt es auch noch! All die erwürgten Köpfe und hervortretenden Augen und watschelnden Pilzwucherungen kreischen vor Hohn!"

Sie sieht nicht nur andere Frauen hinter der Tapete, sondern sich selbst. Sie befreit sich selbst, indem sie die Tapete abreißt.

"Ich habe es endlich hervorgeschafft! ... Und ich habe so viel Tapete wie nur möglich heruntergerissen, damit du mich nicht wieder einsperrst!", schleudert sie John entgegen.

 

Die Frauenrechtlerin Perkins Gilman arbeitet nicht mit versteckten Botschaften oder vage angedeuteter Kritik an den bestehenden Verhältnissen.

Dass ihre Protagonistin in einem vergitterten Kinderzimmer hausen muss, zeigt, welche Stellung eine Frau innerhalb der Gesellschaft hat. 

Ihre eigene Ansicht, wie ihre Beschwerden zu behandeln seien, nämlich mit körperlicher und geistiger Betätigung, werden von den Ärzten vollkommen ignoriert. 

Ihr wird ein Leben übergestülpt, das sie zerstört.

In aller Liebe und Fürsorge wird sie erstickt.

 

Die Tapete, die einer Schlangengrube gleicht, verfügt über ein mehrlagiges Muster. Es gibt ein "oberes" und ein "unteres" Muster. Es ist sicher nicht zu weit hergeholt, an das Unbewusste nach Sigmund Freud zu denken.

Die eingesperrten Frauen befinden sich in dem Muster, das sich unter dem Gitter verbirgt.

 

Perkins Gilman erschuf mit dieser Erzählung eine treffliche Schauergeschichte. Die Umgebung, der Zustand des Hauses, der langsame Verfall an den Wahnsinn, die Stimmung, der Sog, den die Geschichte entwickelt, alles ist da.

 

Zugleich ist es ein kämpferischer Text für die Rechte der Frau. Solange Frauen nicht einmal als erwachsene Menschen als der Selbstbestimmung fähig betrachtet werden, solange Männer über sie verfügen und sich ihres Lebens und ihrer Gedanken bemächtigen, so lange gibt es kein erfülltes Leben für eine Frau. 

Die Erzählerin hat Phantasie, sie geht Gerüchen nach, ist ein sinnliches Wesen, sie hat ihre intellektuellen Bedürfnisse, will schreiben. Offen, nicht heimlich.

Aber sie handelt nicht, sie kämpft nicht. Sie ergibt sich.

 

Anders als Perkins Gilman selbst, die schreibend aus ihrer Depression herausfand und Romane, Erzählungen und wichtige theoretische Werke schrieb, journalistisch tätig war, Vorträge hielt und immer wieder auf die ökonomischen Aspekte als Grundlage für die Gleichberechtigung hinwies, so auch in ihrem Roman "Diantha oder der Wert der Hausarbeit." 

 

Die junge Mutter, deren Baby bei einer Amme ist, kriecht am Ende der Erzählung über ihren in Ohnmacht gefallenen Ehemann hinweg. Darüber ärgert sie sich.

Das ist ein gutes Zeichen!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Charlotte Perkins Gilman: Die gelbe Tapete

Übersetzt von Christian Detoux

Dörlemann Verlag, 2018,  96 Seiten (Englisch und Deutsch)

(Originalausgabe 1892)