Charles Dickens - Ein Autorenporträt

Charles Dickens (1812 bis 1870) ist neben Shakespeare der Klassiker, sowohl was die wissenschaftliche Beschäftigung mit beiden Ikonen angeht, als auch ihren Stellenwert in der Populärkultur.


Er kam aus einer immer wieder in die Armut abrutschenden, mit Schulden kämpfenden kinderreichen Familie. Der Vater saß mehrmals im Schuldgefängnis und schon mit zwölf Jahren wurde der kleine Charles aus der Schule genommen und für sechs Monate in eine Schuhwichsfabrik gesteckt, um den Lebensunterhalt für Eltern und Geschwister zu verdienen. Diese Erfahrung wurde für den Jungen zu einem prägenden traumatischen Erlebnis.


Charles Dickens gründete früh eine eigene Familie, die reichlich mit Nachkommen gesegnet war. Er liebte es zu feiern, Reden zu halten, zu tanzen, Kinder und Erwachsene mit seinen Zaubertricks zu erfreuen, sich zu verkleiden, Charaden und Theater, aber auch Karten zu spielen.


Er war ein ausgesprochen fleißiger Autodidakt. Oft schrieb er gleichzeitig an den letzten Nummern seiner in monatlichen, später auch wöchentlichen Fortsetzungsfolgen veröffentlichten Romane, während er bereits die ersten Nummern für den nächsten Roman konzipierte. Ab 1850 gab er eine eigene, wöchentlich erscheinende Zeitschrift heraus. Er war ständig auf Reisen, schrieb Briefe, hielt Reden, gab öffentliche Lesungen, produzierte Theaterstücke, in denen er meist selbst mitspielte, unterstützte soziale Kampagnen.


Eine Besonderheit Dickensscher Erzählkunst ist ihre Nähe zum Drama. Schauspieler zu werden war der Berufstraum von Dickens seit seiner Kindheit, und das Theater blieb seine große Leidenschaft. In seinen späten Jahren dominierte eine Aktivität alle anderen: die öffentlichen Lesungen aus seinen Werken. Hier hatte er den direkten Kontakt zum Publikum, das stets regen Anteil am Werdegang von Dickens´ Figuren nahm.


Ein Leitmotiv seiner Romane, die durchgängig auch stark autobiographisch geprägt sind, ist die Figur des kindlichen Räubers und Vagabunden. Der Bekannteste unter ihnen ist Oliver Twist. Die Bitte des kleinen Oliver im Armenhaus um einen Nachschlag bei der Essenszuteilung:

“Please, Sir, I want some more“, ist nicht allein die treffende Charakterisierung eines hungrigen Waisenkindes, das gegen sein Schicksal aufbegehrt und versucht, seine Bedürfnisse höflich und doch unmissverständlich zu formulieren.

In seiner Bitte artikuliert sich der verzweifelte Schrei der hungernden englischen Unterschichten, und der Schlag mit dem Kochlöffel auf Olivers Kopf, mit dem seine Bitte quittiert wird, ist Symbol für die menschenverachtende Gewalt der staatlichen Institutionen und ihrer Vertreter. Weil diese Bitte Olivers vom zeitgenössischen Publikum auch als Anklage gegen die Grausamkeit des Staatsapparates und als Appell zur Verwirklichung der Menschenrechte gelesen wurde, ist sie ins kollektive Gedächtnis eingegangen.


Zwei weitere Merkmale Dickensscher Prosa sind Verbrechen und Geheimnisse (crime and mystery). Diesen liegt nicht etwa der Wunsch zugrunde, den Skandalhunger seiner Leserschaft zu bedienen, sondern sie sind Ausdrucksmittel von Dickens´ lebenslanger Sehnsucht nach einer menschlicheren Gesellschaft, nach einer im Sozialen verankerten Verwirklichung des Guten im Menschen. Doch er musste sich zunehmend eingestehen, dass selbst die besten Anlagen korrumpiert werden in einer Gesellschaft, in der das Gesetz des „cash-nexus“ herrscht und alles dem Diktat des Marktes unterworfen ist.


In Dickens´ Werken ist deutlich eine Entwicklung abzulesen: der anfängliche gesellschaftliche Optimismus weicht zunehmend einer tiefen Skepsis. Der versöhnliche Humor der frühen Werke schlägt mehr und mehr um in vernichtende Satire. Kinderarbeit, Kritik am englischen Rechtssystem und Gefängniswesen sind die bestimmenden Themen in den großen späten Romanen Bleak House, Hard Times oder Little Dorrit.


Ein weiteres Motiv, das das gesamte Werk durchzieht, ist die Welt des Kindes und der Kindheit als utopischer Gegenentwurf zur korrumpierten Welt der Erwachsenen.

In einer Welt, die zunehmend von utilitaristischem Denken und Maschinengläubigkeit geprägt ist, konnte das Kind zum Symbol für Imagination und Empfindsamkeit werden.

In einigen Figuren (ganz besonders in Nell Trent in The Old Curiosity Shop und Paul Dombey in Dombey and Son) verdichtet sich Kinderleiden zu Kinderleid und verweist so über das fiktionalisierte Einzelschicksal hinaus auf das grundsätzliche Dilemma, Kind in einer Welt zu sein, die das Recht auf Kindheit abspricht.


Als das komplexeste und nachhaltigste Werk Dickens´ gilt heute Great Expectations (Große Erwartungen).

Hier steht das Waisenkind Pip, das bei seiner herzlosen Schwester lebt, im Mittelpunkt. Auf dem Friedhof lernt Pip einen entflohenen Häftling kennen, Pip hilft diesem, sich aus den Ketten zu befreien. Dieser Mann kommt später zu Geld, er wird der unbekannte Wohltäter Pips. Pip soll zu einem Gentleman erzogen werden, er geht nach London, verschwendet dort aber viel Geld. Bald wird er aus seinen Illusionen gerissen: Magwitch, sein Wohltäter, wird wieder kriminell. Am Ende stirbt er in Pips Armen, sein Geld wird eingezogen. Pip geht ins Ausland und übernimmt am Ende die Schmiede des Mannes seiner Schwester.


So weit der nackte Kern einer vielschichtigen Geschichte mit diversen Nebenpersonen und -Handlungen, einer wunderbar verständigen Darstellung der kindlichen Psyche und der anschaulich zum Ausdruck gebrachten Weltsicht des Dichters in einer lebendigen, unverwechselbaren Sprache, mit der er seine Charaktere ausstattet und sie zu einzigartigen und unverwechselbaren Figuren macht.

In dieser unvergleichlich anschaulichen Figurensprache artikuliert sich gleichzeitig eine gesellschaftliche Wahrheit, nicht nur in diesem Roman, sondern im gesamten Werk.


Das Frauenbild des Dichters ist bürgerlich-konservativ. Es entspricht der viktorianischen Auffassung der Trennung von öffentlicher Sphäre für den Mann und privater für die Frau.

 

In den ersten fünfzehn Jahren der Ehe ist Dickens´ Ehefrau Catherine zwölf Mal schwanger und bringt zehn Kinder zur Welt. Das letzte im Alter von 37 Jahren. 1836 hatten die beiden geheiratet, 1858 trennte Dickens von seiner Frau.

Er ging eine Beziehung mit der siebenundzwanzig Jahre jüngeren Ellen Ternan ein, er führte ein Doppelleben, niemand wusste von dieser Verbindung.

Ellen entsprach seinem bevorzugten Weiblichkeitstypus – „jung, schön und gut“ - diese jungen Frauen bevölkern seine Romane und er suchte sie in der Realität. Sie weckten seinen Beschützerinstinkt, der allerdings nicht frei war von der Lust an der Macht über seine Schützlinge.


Als Dickens sich von Catherine trennte, zerstritt er sich auch mit seinen Verlegern, gab die Zusammenarbeit mit seinem langjährigen Illustrator auf, verkaufte 1860 Tavistock House, das er zehn Jahre zuvor erworben hatte, um dort seinen Lebensabend zu verbringen. Er entschied sich für eine Karriere, mit der er schon lange geliebäugelt hatte: er wurde professioneller und bezahlter Vorleser von Episoden aus seinen Werken. Hier konnte er seine Wirkung als Schauspieler auskosten, und das Ganze hatte einen lohnenswerten Nebeneffekt: er verdiente unglaublich viel Geld mit diesen Lesungen.


Auf einer „reading tour“ in Chester erlitt Dickens einen Schlaganfall, drei Monate später starb er im Juni 1870 in

Gad´s Hill Place, dem Haus und Anwesen in der Marschlandschaft Kents, das er in seinen Kindertagen mit ungläubigen Augen bewundert, begehrt und im Jahre 1858 erworben hatte.

Er wurde in Westminster Abbey, in Poet´s Corner, der Gedenkstätte Englands für seine großen Dichter und Komponisten, beigesetzt.


Wie kein anderer Autor im 19. Jahrhundert hat sich Dickens kritisch mit dem Thema Kinder und Kindheit in der Frühzeit des industriellen Kapitalismus in England auseinander-gesetzt, und mit seiner Kritik an den menschenunwürdigen, Kinder verachtenden Institutionen wie „workhouses“ oder „ragged schools“ zu den realhistorischen Reformen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beigetragen.


Viele seiner Charaktere wurden Teil der britischen Kultur, manche der skurrilen Namen fanden Eingang in die Alltagssprache, aber auch literaturgeschichtlich sind

Dickens´ Romane wegweisend. Ein absolutes literarisches Novum war beispielsweise die Erzählung von Paul Dombeys Tod aus der Perspektive des Kindes.


Bis heute begeistern, rühren und berühren Dickens´ Romane mit ihren unvergesslichen Protagonisten ihre Leserschaft, und sie klären auf – im besten Sinne des Wortes.




 

 

 

Charles Dickens´ Werke sind in verschiedenen Verlagen erschienen. Von manchen Titeln gibt es mehrere Ausgaben, einige wurden verfilmt. Selbstverständlich gibt es diverse Biographien sowie wissenschaftliche Untersuchungen.

Die namentlich im Text aufgeführten Romane sind nur ein Ausschnitt eines großartigen Werkes:

 

Bleak House

Hard Times (Harte Zeiten)

Little Dorrit (Klein Dorrit)

The Old Curiosity Shop (Der Raritätenladen)

Dombey and Son

Oliver Twist

Great Expectations (Große Erwartungen)


Genauso empfehlenswert sind:

David Copperfield

A Christmas Carol (Eine Weihnachtsgeschichte)

A Tale of Two Cities (Eine Geschichte aus zwei Städten)

 

Biographien:

Robert Douglas-Fairhurst: Becoming Dickens. The Invention of A Novelist

Claire Tomalin: Charles Dickens. A Life

Hans-Dieter Gelfert: Charles Dickens. Der Unnachahmliche

John Forster: Mein Freund Charles Dickens

Mary Dickens: Unser Vater Charles Dickens

Johann N. Schmidt: Charles Dickens, Rowohlt Monographie