Laura Freudenthaler - Die Königin schweigt

"Fanny verstand nicht, warum alle ständig in der Vergangenheit wühlen wollten, die Fannys Vergangenheit war. Fanny hatte mit dem Kind die Märchen aus dem Dorf geteilt, und nun befand die Enkeltochter, das genüge nicht.

Nun hatte sie sich allein aufgemacht, weil sie glaubte, etwas herausfinden zu können. Wie es wirklich gewesen war. Dabei gab es doch das Dorf überhaupt nicht mehr. Fanny wusste nicht, wie sie das dem Kind begreiflich machen konnte."

 

Fanny ist Mitte siebzig, als die Enkeltochter, die längst kein Kind mehr ist, selbständig ins Dorf geht, um nachzu-forschen. Seit Ewigkeiten ist sie Witwe, ihr Mann, der Lehrer oder der Schulmeister, wie er durchweg genannt wird, starb bei einem Autounfall - er war betrunken gegen einen Baum gefahren. Jeden Abend hatte er im Wirtshaus verbracht oder bei einer Parteisitzung, schnell war die anfängliche Freude über das Zusammensein verflogen.

Dabei hatte sich Fanny bei der Hochzeit gefühlt, "als würde sie an diesem Tag zur Königin gekrönt."

 

Der frühe Tod des Mannes war nicht der einzige Schicksals-schlag, den sie zu verkraften hatte.

Ihr Bruder Toni ist im Krieg gefallen, die Eltern mussten den Hof, den die Familie seit mehreren Generationen bewirt-schaftet hatten, aufgeben, der Vater hat das niemals verkraftet.

Nach dem Tod des Schulmeisters musste Fanny zusammen mit ihrem Sohn Toni das Schulhaus verlassen, in dem die Familie gelebt und sie die Schulküche betreiben hatte, Platz machen für den neuen Lehrer.

Sie zogen in die Hauptstadt, was vor allem für Fanny eine Tortur war. Besser war es in der Kleinstadt, die zwischen der Hauptstadt und dem Dorf lag und in der sie sich ein eigenes kleines Haus gebaut hatte.

Auch Toni fühlte sich dort wohler - dachte Fanny.

Doch eigentlich wusste sie nicht, was in ihrem Sohn vor sich ging. Er wurde immer schweigsamer, verzog sich in den Keller, in seine Werkstatt.

 

Ganz allein ist sie auch als Witwe nicht geblieben.

Sie führte dem Oberförster den Haushalt, blieb auch manchmal über Nacht. Machte mehrtägige Ausflüge mit Herrn Weiß, traf sich später mit Fritz.

Merkwürdigerweise erhalten diese beiden Herren einen Namen, das ist nicht allen vergönnt.

Auch die Freundin Tonis, Mutter der Enkeltochter, bleibt namenlos, ebenso die Enkeltochter selbst.

 

Hält auch damit Fanny sich die Vergangenheit vom Leib?

 

Viele Geschichten aus dem Dorf erzählt sie im Lauf der Zeit ihrer Enkeltochter. Diese kommt als Kind zusammen mit ihrem Vater Toni oft übers Wochenende zur Großmutter, später kommt sie alleine. Und will immer wieder die gleichen Geschichten hören, gebannt hört sie zu, nimmt sie auf wie Märchen.

 

Aber schon als Kind fühlt sie wohl, dass hinter diesen Dorf-märchen andere Geschichten stehen - die persönlichen,

über diese verliert Fanny kein Wort. Niemals.

Sie selbst hat schon als kleines Kind gelernt, dass es Dinge gibt, über die man nicht spricht.

Ihr Vater mochte geschwätzige Menschen nicht.

Fanny saß gerne unter der Bank in der Küche, hörte zu, beobachtete, was sie von dort aus sehen konnte.

Sie hielt sich aufrecht, gerade, wie der Vater es forderte, wenn sie aus ihrer geschützten Ecke hervor kroch.

Und zeigte auch ihre Freude nicht, biss sich lieber auf die Lippen, als zu lachen.

 

 

Laura Freudenthaler hat den Roman aus einer großen Anzahl von Miniaturen aufgebaut. Meist kaum zwei Seiten, manchmal nur eine halbe Seite lang, fängt sie die verschiedenen Ereignisse ein, aus denen Fannys Leben besteht.

Denn so sehr Fanny auch versucht, die Vergangenheit fern

zu halten, so mächtig drängt sie sich in die Gegenwart.

In Träumen, in plötzlich auftauchenden Gestalten, im Garten, im Haus, in ihrem Schlafzimmer.

Schlafen kann sie schon lange nicht mehr. Sie verbringt

die Nächte in einem Dämmerzustand, in dem zwischen Erinnerung, Traum, Einbildung oder Geistertanz nicht

mehr zu unterscheiden ist.

 

Sehr sehr sorgfältig entwickelt Freudenthaler das Leben ihrer Heldin. Aus dem Knäuel an Geschichten und Erlebnissen zupft sie die Fäden, die sie zu Moment-aufnahmen gestaltet. Sie erzählt nicht chronologisch, sondern so, wie Erinnerungen sich einstellen.

Auslöser können Gerüche sein, Begegnungen, oder einfach nur der Blick auf eine ehemals vertraute Umgebung.

Sie verknüpft die Wahrnehmung des Äußeren mit den inneren Bildern, was die verschiedenen Ebenen der Zeit aufhebt. Und Fanny nicht mehr wissen lässt, in welcher Zeit sie lebt. Bis der Körper sich meldet und ihr zeigt, wie lange es schon her ist, dass der kleine Toni sich Schutz suchend an ihr Bein drückte.

 

Oft nimmt die Autorin einen Gedanken aus der voraus-gehenden Miniatur in der folgenden wieder auf und erzählt ihn weiter. Dies erzeugt einen Sog, in den man als Leser

gerät und der es fast unmöglich macht, die Lektüre zu unterbrechen. 

 

Sehr zart erzählt die junge Frau - man mag kaum glauben, dass Laura Freudenthaler kaum die Dreißig überschritten hatte, als dieses Buch erschien - das Leben einer Frau, die in einer anderen Welt aufwuchs, in einer dörflichen, die es so nicht mehr gibt, einer Frau, die ihre Großmutter sein könnte.

"Meinen Vorfahrinnen" hat sie den Roman gewidmet,

zu ihnen hat sie einen Bogen gespannt.

 

Es ist ein leises Buch, sehr feinsinnig, sehr eindrucksvoll, brillant erzählt, vordergründig schlicht und einfach,

doch bei genauerem Betrachten sehr bewusst und kunstvoll ausgearbeitet.

 

 

 

Hier noch eine ganz kleine Leseprobe:

"Fanny könne überhaupt zu ihm heraufziehen, sagte der Oberförster. Fanny nickte. Sie berührte den Arm des Oberförsters. Er begriff nicht, dass Fanny hier bei ihm im Forsthaus lebte, dass sie seine Frau war und immer bleiben würde, so wie sie es in diesem Augenblick war. Für den Oberförster war die Wirklichkeit einfach, aber Fanny wusste es besser. Fanny wusste, dass die Wirklichkeit gefügt war aus verschiedenen Ebenen und dass ein Mensch in seinem Leben immer mehrere war. Das Leben zu bewältigen hieß, mit den verschiedenen Gesichtern zurechtzukommen und darüber nicht die Fassung zu verlieren."

 

 

 

 

Diese Autorin ist eine echte Entdeckung für mich.

Auch ihr Nachfolgeroman "Geistergeschichte" ist ein faszinierendes Buch über die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Laura Freudenthaler: Die Königin schweigt

Literaturverlag Droschl, 2017, 208 Seiten