Franz Hessel - Der Kramladen des Glücks

Franz Hessels erster Roman aus dem Jahr 1913 erzählt die Lebensgeschichte des Gustav Behrendt bis in die Studen-tenzeit hinein. In vielen Punkten gleichen sich die Entwicklungen von Dichter und Held, Ereignisse, die im Roman benannt werden, fanden in der Wirklichkeit statt. Doch es handelt sich nicht um eine Autobiographie, Gustav ist eine literarische Figur, der Roman ein Daseinsentwurf.

 

Franz Hessel kam 1880 in Stettin zur Welt, er hatte drei Geschwister, die Familie war recht wohlhabend.

1888 zog die Familie nach Berlin, nur zwei Jahre später verstarb sein Vater. Er ließ die Familie finanziell gut versorgt zurück.

Ein weiterer Schlag für Franz war der Tod seiner Schwester bei der Geburt ihres zweiten Kindes 1903.

 

Von 1899-1906 studierte Hessel in München und verkehrte dort in der Künstlerkolonie in Schwabing. Von Jura wechselte er zur Orientalistik, schloss sein Studium aber nie ab.

Der Münchner Zeit folgten einige Jahre in Paris, kurz vor Ausbruch des Krieges kehrte er nach München zurück, 1920 zog er nach Berlin. Bis 1938 blieb er dort, floh auf Anraten seiner Freunde nach Paris, dann weiter nach Südfrankreich. Er verstarb 1941 an den Folgen einer zweimonatigen Lagerhaft in Sanary-sur-Mer.

 

Soweit die Eckdaten des Lebens von Franz Hessel.

 

Gustav Behrendt ist ein verträumtes Kind. Mit seinen Eltern und dem älteren Bruder Rudolf lebt er in einem großzügigen Haus. Der Vater nimmt ihn manchmal mit in sein Kontor,

die Mutter kränkelt und liegt meist im Bett.

Gustav liebt es, sie dort zu besuchen und die geschnitzten Engel ihres Betts zu betrachten, er liebt es, ihr nahe zu sein.

 

Ein großer Schock ist ihr Tod: sie stirbt bei der Geburt des dritten Kindes. Gustav ist noch nicht im Schulalter, nach außen nimmt er diesen Verlust gelassen, der Vater wundert sich, dass "sein kleiner Gustav nie nach der verstorbenen Mutter fragte" - "Er liebte jetzt seine alte Hanne", sein

Kindermädchen, so Gustav im Rückblick.

 

Mit der Mutter verliert Gustav auch seinen Glauben an Gott.

Schon immer hatte er diesen mehr gefürchtet als geliebt, doch nachdem er die Mutter und sein Schwesterchen "weggeholt" hat, weiß er, "daß dieser liebe Gott ein arger Gott war, er machte sich unsichtbar und konnte überall sein,

um uns zu belauern und wegzunehmen, was wir liebhaben."

 

Später wird er den Glauben "seiner Väter" verlassen, was ein rein formaler Akt ist, denn im Inneren hatte er nie dazu gehört. Er weiß nicht einmal, was ein Jude ist, als ihm dieses "böse Wort" zum ersten Mal nachgerufen wird, muss er fragen, was es bedeutet.

 

Gustav kommt in die Schule. Es langweilt ihn unendlich, lediglich an den Buchstaben hat er seine Freude. Aber schon deren Zusammenfügen zu Worten und Sätzen findet er "nicht sehr lustig." Er sträubt sich dagegen, sie in Zusammen-hänge einzuordnen, dies stört seine reine Freude an ihrem Erscheinungsbild.

Er hat keine Freude an handwerklichen Tätigkeiten wie sein Bruder, deshalb bleiben "seine Finger ungeschickt."

Am Strand baut Rudolf mit Hingabe Burgen, Gustav liegt lieber in den Dünen und lässt den Sand durch die Finger rinnen.

 

Dieses lieber-zuschauen als aktiv mitmachen ist Gustavs Art. Es wird sich nicht ändern als er in Berlin das Gymnasium besucht (Herr Behrendt zog mit seinen beiden Söhnen dorthin, als Gustav neun Jahre alt war), nicht während der kurzen Zeit, die er in Freiburg studiert, und auch nicht während seiner Studienjahre in München.

 

Dorthin war er Rudolf gefolgt, der Musik studierte und

in der Künstlerszene verkehrte, in die er auch den jüngeren Bruder einführte.

 

Während seiner Schulzeit hat Gustav  immer wieder neue Freunde. Er schließt sich gerne an, ist auch den anderen angenehm, doch nach einer gewissen Zeit erschöpfen sich die Freundschaften oder enden in Enttäuschungen.

Er liest gerne, Tausendundeine Nacht, Des Knaben Wunder-horn und Märchen sind seine Begleiter.

 

"Du füllst deinen Kopf mit zu viel Märchen und Anekdoten. Das führt ins Phantastische, Unwirkliche, fort vom eigent-lichen Leben. Das Leben ist Wollen und Wissen und Pflicht. Du bist so spielerisch.

Warum beschäftigst du dich nicht mit ernsteren Dingen?

... Was willst du einmal werden?"

 

Diese Fragen stellt der Vater eines Tages.

 

Gustav versucht es mit den nützlichen Dingen.

Er ist nicht unwillig dem Vater zu gefallen, aber er ist einfach von anderer Art.

 

"Wenn ich die Aufmerksamkeit so anspanne, verstehe ich schlecht. Mein Verstehen muß von selbst kommen."

"Für alle Dinge, auf die es nicht ankommt, habe ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis."

"Ich kann nur an das, was an mich will."

 

Gustavs Umgang mit den Mädchen und Frauen ist ebenso wenig von Taktik und zielorientiertem Handeln geprägt,

wie sein Werdegang im Bereich von Wissensaneignung

und Pflichterfüllung.

Zwar gibt es immer eine junge Frau, die er bewundert, mit der auch ausgeht, deren Hand er halten oder die er sogar küssen darf, aber dann vergisst er, welchen Schritt er nun laut bürgerlichem Drehbuch als nächsten tun müsste.

 

"Als sie vom Tempelhügel hinuntergingen, nahm Gustav sich vor, vernünftig zu Werk zu gehn wie die anderen. Aber kaum waren sie bei den wilden Büschen am Weg ... da hatte er schon alle Strategie verloren. Er dachte nicht mehr an sich und sie zusammen, und was aus ihnen beiden werden sollte, er sah nur noch sie, wie ihre Augen wanderten, wie ihre Finger suchten und tasteten. Er wäre am liebsten unsichtbar gewesen um sie her, damit sie das alles noch eigner und einsamer täte. Und vor lauter Liebe zu ihr hatte er schier vergessen, daß es doch seine Liebe war."

 

Ich halte es für viel zu sehr verkürzt, Gustav als passiv zu bezeichnen. Er hat den Anspruch, allem, den Dingen und den Menschen, ihr Eigenes zu lassen. Er will die Welt sehen, wie sie ist, und nicht, wie sie in Beziehung zu ihm selbst ist.

In obigem Zitat wird sehr deutlich, dass es ihm wichtiger ist, die geliebte Marianne bei den ihr eigenen Tätigkeiten zu beschauen, als sie in Bezug auf sich selbst und seiner Liebe zu ihr zu sehen und erleben.

 

Gerda, in deren Haus er einige Zeit lebt, die er auch verehrt, die aber ihre Liebe anderen schenkt, konstatiert und fragt ihn einmal:

"Ja, Sie sind eigentlich gar kein moderner junger Mann,

guter Gustel. Oder wissen Sie auch schon, was Sie wollen?"

Der moderne Mensch weiß, was er will, was er aus seinem Leben machen will. Aber Gustav?

"Was liegt denn an Berufen? Ist es nicht genug, wenn man ein Mensch wird?"

 

Ein Mensch möchte er sein, keine Funktionseinheit.

 

Auch die Freude oder nur der Gedanke an Besitz ist ihm fremd. In Bezug auf die Liebe:

"Er war ja doch kein Nebenbuhler. Er wollte ja nur mitlieben, mithelfen, Glück zu schaffen und schönes Dasein."

 

Bei einem kurzen Besuch in Basel entdeckt Gustav einen "Spezereiladen." Er ist fasziniert von all den unnützen Dingen, die es dort zu sehen gibt. Er geht hinein, kauft sich Bonbons und "wanderte mit seiner Tüte glücklich durch die winkligen Gassen weiter."

Später findet er zusammen mit Marianne noch einmal einen ähnlichen Laden.

"In einer Gemischtwarenhandlung machten sie dann Einkäufe: Walnüsse, Kochäpfel und Feigen an der Schnur. Einen kleinen Kreisel, gelb mit roten Streifen, der ihnen wohlgefiel, gab die Krämerin zu. 

- Ist nicht das Glück, das Himmelreich gleich einem Kram von allerlei Ware?, meinte Gustav und dachte an den Laden in Basel." 

 

Beide Entdeckungen führen ihn zurück in die Kindheit.

Das Glück, das die Waren auslösen, ist nicht das, sie zu besitzen. Sie führen ihm die Vielfalt ohne Zusammenhang vor Augen und versetzen ihn in die Kindheit, d.h. eine Zeit ohne Pläne und Absichten, zurück.

 

Die ihm eigene Welt des Kindes ist eine ohne angelernte Bedeutungen. In einem klassischen Bildungsroman - an dieses Gerüst hält sich Hessel mit den Stationen Kindheit- Jugend-frühes Erwachsenenalter - hätte der Held gelernt, sich die Welt so anzueignen, wie sie ihm gezeigt wird.

Gustav möchte sie so sehen, wie sie sich ihm zeigt.

 

Dieser junge Mann ist ein faszinierender Mensch.

Er ist ohne Ideologie, ohne Religion, es gibt nichts, an dem

er sich abarbeitet, auch nicht als Gegenentwurf.

Sein Wunsch, in Schönheit zu leben und Glück zu schaffen stellt ihn außerhalb der Gesellschaft. 

Seine Offenheit, die gern als Planlosigkeit interpretiert wird, passt nicht in die von Arbeit geprägte bürgerliche Lebens- und Wertewelt.

War er schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Fremder, wie würde er sich heute fühlen?

 

 

Der Roman Hessels ist ein überaus angenehm zu lesender Text. Er stellt große Fragen, ist jedoch ohne jede Theorie.

Er entführt in eine Welt der Kunst und der Künstler, in die Kinderwelt eines Menschen, der durch den Tod der Mutter früh aus dem Paradies vertrieben wurde, er erheitert mit manch luftiger Szene und ist gleichzeitig ernst und melancholisch. Er nimmt Strömungen der Zeit auf und ist ganz klar in der Realität verortet, doch ihm haftet etwas Überzeitliches, etwas Schwebendes, etwas zauberhaft Märchenhaftes an. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Franz Hessel: Der Kramladen des Glücks

mit ausführlichem Nachwort von Manfred Flügge

Lilienfeld Verlag, 2018, 320 Seiten

(Originalausgabe 1913)