Nina Jäckle - Stillhalten

Den Umschlag dieses Buches ziert ein Ausschnitt des Gemäldes "Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris" des Malers Otto Dix aus dem Jahr 1933.

Im Hintergrund sind sattgrüne Hopfenranken zu sehen, die sehr blonde Tamara trägt ein hochgeschlossenes graues Samtkleid, vor dem die Iris weiß leuchtet. Sie lächelt ganz bezaubernd.

 

Einundzwanzig ist Tamara, als sie Dix in Dresden Modell steht. Sie ist Schülerin der berühmten Mary Wigman, einer sehr progressiven Tänzerin, die mit ihren Vorstellungen von Ausdruckstanz ganz neue Ideen in die Welt des Tanzes bringt.

Nach den täglichen Stunden bei ihr geht Tamara abends in ein Kabarett, um dort zu tanzen, d.h. ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Für sich und ihre Mutter, die ihr all die schönen Tanzkleider näht.

 

Berühmt will sie werden, träumt von einer großen Karriere in Paris, Rom oder Amerika. 

Später wird sie Postkarten bekommen aus eben diesen Städten: sie wird benachrichtigt, wo "ihr" Porträt gerade zu sehen ist. Anstelle der jungen Frau geht das Bild auf Reisen, an ihrer Stelle wird es berühmt, eine Kopie hängt in Tamaras Zimmer in dem einsamen Haus, in dem sie später lebt.

 

Drei Jahre nachdem Dix die Tänzerin porträtiert hat, heiratet Tamara einen Mann, der ihr und ihrer Mutter die Existenz sichert. Er war Zuschauer gewesen im Kabarett, begeistert von ihrer Kunst. Doch die Sicherheit der Ehe mit ihm hat ihren Preis: er verbietet ihr, weiterhin zu tanzen.

 

Auch das Bild will er nicht sehen. Dass Tamara einige Zeichnungen des von ihm "Schmierer" genannten Malers versteckt, nachdem dieser Dresden verlassen musste, dass sie sie sogar in ein Kofferfutter eingenäht auf der Flucht mit sich führt, weiß er nicht. Er hätte es niemals erlaubt.

 

Die Gespräche, die der Maler und sein Modell während den Stunden des Stillhaltens für das Porträt führen, binden die persönliche Geschichte der jungen Frau in die gesellschaftlichen Entwicklungen ein und geben so ein genaues Bild der heraufziehenden "Düsternis" in Deutschland. Der Maler, der während des Ersten Weltkriegs an der West- und Ostfront war, weiß, dass Kriege nicht Helden, sondern Krüppel hervorbringen.

 

"...die Armseligkeit des Menschen spiegelt sich doch auch darin wieder, dass alles ins Aushaltbare geschönt werden muss. Die Schweinereien, die wir ständig anrichten, das Stinkende und Dreckige sind doch auch die Wahrheit, wer Augen hat zu sehen, der sehe, sagte der Maler, während Tamara die Iris in den Händen hielt und lächelte." 

 

Tamara lebt später mit ihrem Mann in einem großen Haus am See auf dem Land. Der See war früher ein Steinbruch,

nun ist er mit Wasser gefüllt. Ihr Mann lebt im Erdgeschoss, Tamara bewohnt die obere Etage. Sie begegnen sich nie.

Der Roman von Nina Jäckle zeigt die gealterte Tamara,

wie sie Tag für Tag in ihrem Zimmer zubringt oder am See spazieren geht, und über ihr Leben nachsinnt.

Die Abende verschönt sie sich mit Sekt, jeden Morgen hat

die Haushälterin mehrere Piccolos aufzuräumen.

 

Mit diesem freien Strom an Erinnerungen bringt sie dem Leser die Frau, die gelernt hat, im Leben still zu halten, sehr nahe. Sie hält still, obwohl sie im Ausdruckstanz, der die Tänzerinnen von den Formen des klassischen Balletts befreit, die ihr entsprechende Art zu leben gefunden hatte.

 

Sicherlich ist dies auch der Ungewissheit der Zeit geschuldet, auch dem Drängen der Mutter. Und doch: Tamara hat auf die Freiheit verzichtet.

Ihr Leben ist eine nicht gelebte Möglichkeit.

 

"Die Rose, der Kuckuck, der Pfau, die Kuh, der Granatapfel, du musst immer auf die Atribute achten, wenn du ein Bild betrachtest, hatte der Maler ihr damals gesagt, die Iris wird deines sein."

 

Die Attribute der alt gewordenen, einsamen und kinderlosen Tamara des Romans sind Tiere.

Ihr Mann zwingt sie, Hechte, die er im eigenen See gefangen hat, auszunehmen. Sie ekelt sich, weigert sich aber nicht.

Enten beeindrucken Tamara immer wieder mit ihrer Fähigkeit, im Flug plötzlich Eleganz zu zeigen. Sie erinnern sie daran, "wie die Entdeckung des eigenen Ausdrucks, die Entdeckung des körperlichen Vermögens, dieser Höhenflug des Gelingens ihr Wesen veränderte."

Schwäne, Küken, Libellen, Spinnen, Vögel, sogar Fliegen und auch Wildschweine, Karpfen und Kaulquappen kommen in dem Roman vor. 

Sehr schlüssig setzt Nina Jäckle die Tiere als Attribute in der Geschichte ein, wie man es von Bildern gewohnt ist.

 

Ganz wichtig ist der Hund. Einst Jagdhund, dann degradiert, weil er die Beute nicht dem Herrn brachte, sondern im Wald vergrub, fristet er nun ein einsames Dasein im Zwinger.

Er verlässt diesen nicht einmal bei geöffneter Tür.

"Gerade genug Zuwendung bekam er, um zu überleben in ständiger Sehnsucht und in jämmerlichem Zustand, denkt Tamara..."

"Bellt der Hund nachts in seinem Zwinger, ist es Tamara, als würde dieses Bellen die Einsamkeit vervielfachen, die das Haus umgibt, die in allen Räumen des Hauses auch sie mit einschließt."

Früher hatte ihr Mann gesagt, "aus dem wird mal was".

"Nein, aus dem ist nichts geworden, schrieb Tamara Jahre später in ihr Abrechnungsbuch, die Jäger und ihre Hunde hatten sich im Hof versammelt, der Hund ihres Mannes jedoch blieb im Zwinger zurück. Ein ängstliches, ein räudiges Etwas hinter Gittern."

 

Auch aus ihr ist nichts geworden. In ständiger Erinnerung

an vergangene Tage und verflossene Möglichkeiten lebt sie als personifizierte Einsamkeit in ihrer Etage mit Blick auf den See.

 

Während normalerweise Tagebuch geschrieben wird,

führt Tamara ein "Abrechnungsbuch." Hier trägt sie Ausgaben ein, aber auch Gedanken.

Mit wem rechnet sie ab?

Mit ihrem Mann? Mit ihrer Mutter? Sich selbst?

Dem Leben? Ihrer Angst? Mit allen.

Außer ihrer Tanzlehrerin und dem Maler.

Diese beiden haben das Mögliche in ihr geweckt.

Die eine als Bewegung, der andere, indem er sie ab-bildete.

Tamara selbst hat den Zeitpunkt, zu dem sie noch hätte gehen können, verpasst. Sie hat sich fürs Stillhalten entschieden.

 

 

Nina Jäckle ist ein sehr schönes Porträt gelungen.

Sie hat einige Änderungen am tatsächlichen Lebenslauf

der Tänzerin vorgenommen, das schmälert nicht die Wahrhaftigkeit der Geschichte.

Es ist die Freiheit, die sich auch Dix genommen hat, als er

die schöne junge Frau nicht ganz realistisch darstellte.

 

In einem Interview sagte Nina Jäckle:

"Die Möglichkeit zur Freiheit wurde verschenkt."

Diesen Kern der Lebensgeschichte Tamara Danischewskis

hat sie herausgeschält. Man kann ihn als Warnung lesen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nina Jäckle: Stillhalten

Klöpfer & Meyer, 2017, 190 Seiten