Jane Gardam - Ein untadeliger Mann

Edward Feathers, genannt Old Filth, was sich von Failed in London try Hong Kong herleitet, ist  nun fast achtzig Jahre alt, lebt in Dorset und vermisst seine kürzlich verstorbene Frau Betty schmerzlich. Er war ein erfolgreicher Anwalt in Hongkong und vertrat als Richter die Krone. Ein Mann des alten Empire, stets korrekt von der Kleidung bis zu den Manieren.

 

 

Geboren wurde Edward (Eddie) 1923 auf Malaysia, die Mutter verstarb wenige Tage nach seiner Geburt. Der Vater überließ ihn dem Kindermädchen und bekam ihn erst wieder zu Gesicht als eine für die Mission tätige Dame, Auntie May, Eddie abholte, um ihn in die nächstgelegene Stadt zu bringen. Dort sollte das nunmehr viereinhalbjährige Kind Englisch lernen, um mit fünf seine Reise nach England anzutreten. Eddie sprach und verstand zu diesem Zeitpunkt kein Wort seiner "Muttersprache", er hatte noch nie an einem Tisch gegessen oder eine Hose getragen.

 

Auntie May bringt ihn zusammen mit zwei Cousinen, Babs und Claire, nach Wales. Dort kommen die Kinder zu einem Ehepaar, das diese Pflegekinder aufziehen und zu guten englischen Bürgern machen soll. 

Drei Jahre verbringen die Kinder dort, sie sind die Hölle auf Erden. Herausgerissen aus ihrem ganzen bisherigen Leben sind sie Ma Didds ausgeliefert, die sie quält und demütigt. 

 

Die in Übersee geborenen Kinder englischer Kolonial-beamter mit vier oder fünf Jahren nach England zu Pflegeeltern "nach Hause" zu schicken, war eine gängige Praxis. Diese Waisen des Raj verloren den Kontakt zu ihren leiblichen Eltern vollständig, konnten sich oft nicht einmal mehr an sie erinnern. Hatten sie Glück, trafen sie es gut mit ihrer Pflegefamilie, sehr häufig wurden diese Kinder jedoch lediglich als Einkommensquelle gesehen und nicht als Menschen mit Rechten und Bedürfnissen betrachtet.

 

Als Eddie acht Jahre alt ist kommt er in ein Internat, ein sehr gutes. Der Schulleiter, der nicht mit Namen, sondern immer mit Sir angesprochen wird, ist zwar sehr streng, aber nicht ungerecht und nicht brutal.

In dessen Büro sieht Eddie zum ersten Mal seinen Vater wieder, er war aus Malaysia gerufen worden, weil die Umstände doch sehr besondere waren.

 

Zu den zwei Schwestern des Vaters, die in relativer Nähe wohnen, hat der Junge überhaupt keinen Kontakt.

Glücklicherweise freundet er sich schon am ersten Tag mit Pat Ingoldby an, der ein Jahr älter ist. Eddie und Pat sind unzertrennlich, er begleitet Pat in den Ferien nach Hause, und gehört bald zur Familie Ingoldby.

Mehr oder weniger. Als es Ernst wird, gar nicht mehr.

 

Als der Krieg ausbricht und Edward eigentlich alt genug ist, um zur Army zu gehen, beordert sein Vater, der in den letzten zehn Jahren niemals ein Wort von sich hören ließ, seinen Sohn nach Singapur. Er möchte Edward in Sicherheit bringen. Für den jungen Mann ist es eine Schande, evakuiert zu werden wie ein Kind. Er wollte für sein Land kämpfen.

 

Eddie kommt in drei Monaten bis nach Colombo, dann dreht das Schiff wieder um, weil Singapur von Japan besetzt ist.

Nach sieben Monaten ist Edward also zurück - und kommt direkt in ein Krankenhaus. Er hatte sich unterwegs eine Geschlechtskrankheit zugezogen. Nach seiner Genesung wird einer einer Gruppe Soldaten zugeteilt, die Queen Mary bewachen soll. Nicht sein Traumjob, aber er macht sich gut und die Queen plaudert gerne mit ihm.

 

In diese Kleinstadt kehrt Edward zurück, als er nach Bettys Tod eine Reise antritt, die ihn in die Vergangenheit führt. Zuerst besucht er seine Cousine Babs in einem Dorf im Norden, dann fährt er zu Claire in den Süden Englands. Gesundheitliche Probleme lassen ihn in einem Hotel stranden, hier vermischen sich Gegenwart und Vergangenheit vollends. Die Großmutter einer freundlichen Pflegerin hatte Eddie eventuell gekannt, damals...

 

Jane Gardam durchläuft mit Edwards Leben das ganze

20. Jahrhundert. Das niedergehende Empire, die Kriegs- und Nachkriegsjahre bilden den Hintergrund von Edwards Leben. Seine Karriere macht er in Hongkong, wo er auch Todesurteile im Namen der Krone ausspricht. In einem repräsentativen Haus im Süden Englands verbringt er seinen Lebensabend, bezeichnenderweise stirbt Betty beim Tulpen- pflanzen. 

 

"Sein Erfolg als Anwalt in Hongkong war so phänomenal gewesen, weil er entspannt, beherrscht, fleißig und talentiert war. Seine Karriere war in dem Moment in Gang gekommen, als die Straits-Chinesen anfingen, ihm das Mandat zu erteilen. Aus seiner Kindheit in Malaya war ihm eine Vertrautheit mit asiatischen Sprachen geblieben, außerdem empfand er auch eine gewisse Nähe zur asiatischen Seele. ... Sein ganzes Leben lang hatte er chinesische Werte hochgehalten: die Höflichkeit, die plötzlichen Seitenhiebe, die unbedingte Gastfreundschaft, die Freude am Geld, die Schicklichkeit, die Wertschätzung des Essens, die Diskretion, die Cleverness."

 

Betty war eine in Peking geborene Schottin, sie folgte ihm überall hin, ohne ihre geistige Eigenständigkeit aufzugeben. In einer fünfzig Jahre währenden Ehe wuchsen die beiden eng zusammen, doch eines gab es, das Edward nicht mit ihr teilen konnte. Das war die Zeit in Wales, sie lag verschlossen und versiegelt auf dem Grund seiner Seele.

 

Ganz geschickt streut Gardam immer wieder kleine und kleinste Hinweise auf diese Zeit ein - es ist klar, dass dort etwas Ungeheures vorgefallen ist.

Die Andeutungen mehren sich, wenn Babs oder Claire auftreten. Dramaturgisch sind sie Nebenfiguren, aber sie sind diejenigen, die wissen, was damals geschah und deshalb von großer Wichtigkeit.

"Anscheinend", sagte Clair, "reißt Bettys Tod Grenzen ein. Spült Leichen an die Oberfläche." 

 

Dieses Leben, Kindheit, Jugend, Army und Universität, erste Berufstätigkeit und spätere Karriere, Ehe, Freunde und Feinde, die Einsamkeit nach Bettys Tod, die plötzliche Reiselust, die Eward sogar wieder nach Asien führt, erzählt Gardam nicht chronologisch. Sie webt fünf Zeitebenen ineinander, wechselt von einer zur anderen, führt Vergangenes und Gegenwärtiges eng zueinander - manchmal überlappend - bis zur Dienstbotenebene taucht der Leser ein in eine Geschichte, die auf jeder Ebene fasziniert. 

 

Jane Gardam (geb. 1928) hat 32 Romane verfasst, Erzählungen und Kinderbücher geschrieben -

"Ein untadeliger Mann" ist das erste Buch, das auf Deutsch erschienen ist. In England wird sie in einem Atemzug mit Charles Dickens genannt, wie er versteht Gardam es, Tiefgang und Leichtigkeit zu verbinden und schwerwiegende Vorfälle mit sprachlicher Eleganz zu erzählen.

Es ist schön, dass diese Schriftstellerin nun endlich übersetzt wird. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jane Gardam: Ein untadeliger Mann

Übersetzt von Isabel Bogdan

Hanser Berlin Verlag, 2015, 352 Seiten

dtv, 2017, 352 Seiten

(Originalausgabe 2004)