Friederike Gösweiner - Regenbogenweiss

Die soeben pensionierte Lehrerin Marlene steht am Fenster, schaut zu, wie ihr Mann Hermann eine Bierkiste ins Auto lädt und plötzlich zu Boden stürzt. "Sofort tot", sagt der Arzt, Herzinfarkt, mit sechzig Jahren. Mit diesem Ereignis beginnt der Roman, der ein tiefsinniges Nachdenken über Trauer und Verlust, aber auch Glück, Respekt und Heimat ist. Und über den Begriff der Zeit und  menschliche Kommunikation.

 

Marlene ruft sofort ihre Kinder Filippa, 34, und Bob, 30, an.

Filippa lebt in Paris, arbeitet an ihrer Habilitation über die Revolution und Hölderlin, unterrichtet an ihrer österreichi-schen Heimatuniversität und fliegt einmal im Monat nach London, um sich mit ihrem Freund Anuk zu treffen. Ein unstetes Leben also, das Filippa nicht glücklich macht.

Bob, der nach seiner Promotion in Physik an eine holländi-sche Universität ging, verdient sein Geld als Reiseleiter und hofft auf eine Karriere in Kanada. Eine feste Stelle in Holland, von der er meinte, sie sei ihm sicher, hat er nicht bekommen. Eine Frau wurde bevorzugt, Quotenregelung.

 

Und nun ist der Vater, Professor der Physik, tot. Gestorben am 18. November 2014. An diesem Tag beginnt der Roman, der nach Art eines Tagebuches bis zum 18. Mai 2016 fortschreitend berichtet, wie Marlene, Filippa und Bob mit diesem Verlust fertig werden, versuchen, fertig zu werden.

 

In diesen anderthalb Jahren schälen sich die Persönlich-keiten der drei Protagonisten klar heraus.

 

Bei Marlene steht die Trauer im Vordergrund, die Erkennt-nis, dass dieses Gefühl tiefster Traurigkeit chronisch ist und bleiben wird. Sie weiß auch, dass sie sich ein "Werk" suchen muss, um beschäftigt und abgelenkt zu sein, und auch, um etwas Sinnvolles zu tun. Sie fängt an, sich für Flüchtlinge zu engagieren:

 

"Immerhin hatte sie die Flüchtlinge als eine Aufgabe. Absurd, das so zu denken, aber so war es doch. Was würde sie denn sonst jetzt immer tun? Läse sie all die Briefe ihrer Ahnen in den Schachteln, die sie ins Tochterzimmer verfrachtet hatte, um sie nicht mehr zu sehen? Tränke sie jeden Tag zu viel Wein, weil das nicht auszuhalten war - all diese Vergangen-heit und nichts mehr, das vor ihr lag, außer der eigene Tod und bis dahin Tage, die einander glichen, aufgefüllt mit irgendeiner Tätigkeit, um nicht zu sehr zu spüren, wie nutzlos sie jetzt war und wie nah das eigene Ende."

 

Filippas größter Wunsch ist ein Kind. Spätestens mit 35  möchte sie Mutter werden, gleichzeitig will sie ihre Karriere

nicht vernachlässigen. Die Zeit ist für sie in Zyklen getaktet, alle vier Wochen erlebt sie eine schlimme Enttäuschung.

Ihr Kinderwunsch bringt auch die Beziehung zu Anuk in Schwierigkeiten: er sei nicht nur ein "Samenspender, ... sondern ein Mann, ein Mensch", sagt er.

Nach Vaters Tod weint Filippa sehr viel, besucht die Mutter so oft wie möglich, räumt mit ihr im Haus umher, immer versucht sie, es allen recht zu machen, auch, um ihren abwesenden Bruder zu ersetzen, zu entschuldigen.

 

Bob hat sich nach Kreta zurückgezogen. Seine Freundin Zoe ist in Holland geblieben, die Beziehung leidet vor allem an der Schwierigkeit, miteinander zu kommunizieren, auch wenn beide davon überzeugt sind, den anderen zu lieben.

 

Die Unfähigkeit aller, offen und ehrlich miteinander zu sprechen, ist der Untergrund, auf dem der ganze Roman steht. Die Worte "er/sie dachte" ist wie ein Gerüst, um das herum sich die Geschichte entwickelt. Zaghaft wird im Lauf der Zeit ein "er/sie sagte" daraus, ganz sicher auf diesem Boden fühlt sich jedoch keiner. Auch nicht die Lehrerin Marlene und die Literaturwissenschaftlerin Filippa.

 

Bob galt schon immer als Eigenbrötler, er spricht nicht viel, scheint sich für andere nicht zu interessieren. Oft gab es Streit mit dem Vater, auch fachlichen. Bob verfolgte in seiner Forschung ein anderes Konzept der Zeit als Hermann, und vor allem fühlte er sich nicht ernst genommen.

 

Als seine Mutter ihm an Weihnachten 2015 vorwirft, er würde sich nicht kümmern, würde nicht mit ihr sprechen, pariert er, sie wolle nicht mit ihm reden.

"So ist es. So war es auch mit Dad. Du willst nicht mit mir reden. Du willst, das ich gewisse Dinge sage, die du hören willst. Dass ich das und das tue, weil du deinen Sohn so haben willst. Aber es tut mir leid, ich kann das nicht erfüllen."

 

Ansprüche und Erwartungen stehen zwischen den Menschen wie Mauern. Die Natur hingegen ist nicht manipulierbar,

sie ist "konstant und unbeugsam", so Bob. Deshalb ist die Beschäftigung mit ihr in seinen Augen von großer Schönheit erfüllt. Anders die Menschen:

"Nichts war so bedrohlich wie das Menschentier", denkt Bob.

 

Da der Roman die Zeitspanne um die Attentate auf Charlie Hebdo und Bataclan umfasst, erweitert Friederike Gösweiner die private Erzählung um eine politische Dimension.

Terror, Flüchtlingskrise, Finanzkrise, die Lage in Griechen-land, das akademische Prekariat sind Themen, die diesen Roman durchziehen. Wie die Bedrohlichkeit und Bedrohtheit des "Menschentiers" aushalten, womöglich verwandeln? 

 

Der, vor dem Hintergrund einer schwierigen historischen

Zeit, aus drei unterschiedlichen Charakteren, Weltsichten, Wünschen und Kommunikationsarten gewebte Roman besticht durch die konzentrierte und konturierte Personen-zeichnung. Ihre Gedanken, Worte und Handlungen zeigen, was sie eint, was sie trennt. Der Roman zeigt auch auf, führt in den Gesprächen und Selbstgesprächen aus, welch große Bedeutung die präzise Sprache hat, sie ist Voraussetzung dafür, verstanden zu werden.

 

In den letzten drei Abschnitten löst Friederike Gösweiner die ineinander geflochtenen Stränge voneinander. Jede Figur ist dabei, sich von der Vergangenheit zu verabschieden, steht als Solitär vor einer unbestimmten Zukunft.

Alle diese Abschnitte enden in der gleichen Art: offen.

 

 

Ein schöner, abermals überzeugender Roman, der 1980 in Rum bei Innsbruck geborenen Autorin, deren Erstling, "Traurige Freiheit", 2016 den Österreichischen Buchpreis in der Kategorie Debüt erhielt und ebenfalls im Literaturverlag Droschl erschien.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Friederike Gösweiner: Regenbogenweiss

Literaturverlag Droschl, 2022, 344 Seiten