Rudyard Kipling - Über Bord

Kipling wurde 1865 in Bombay geboren, er starb 1936 in London.

Als "Über Bord" veröffentlicht wurde, war er bereits ein berühmter Mann: die "Dschungelbücher" waren 1894 erschienen, zwei Jahre vor dem Seestück, dem Abenteuer- und Entwicklungsroman, der Sozialstudie und der detailgenauen Beschreibung eines alten Handwerkes: der Seefahrt.

All dies ist "Über Bord" und es verwundert nicht, dass der Roman sofort zu einer Sensation wurde.

 

Kipling ist ein sehr sprachmächtiger Autor, der neben Shakespeare den größten Wortschatz hat und der auch gerne in einem Atemzug mit Charles Dickens genannt wird.

Das betrifft den Erfindungsgeist, die Herzenswärme, das aufmerksame Hinschauen und Beschreiben, aber auch das Schicksal, außerhalb Englands als Jugendbuchautor wahrgenommen zu werden. Das sind beide Dichter definitiv nicht.

 

Kipling, der Nobelpreisträger von 1907, verbrachte die ersten sechs Jahre seines Lebens in Indien, zur "Erziehung" wurde er nach England geschickt. Das war so üblich. Als er mit siebzehn Jahren zurückkehrte, schrieb er für anglo-indische Zeitungen, begann aber auch schon früh eine literarische Karriere. Er reiste sehr viel, äußerte sich immer politisch und engagierte sich sozial. Anfang der 1890er-Jahre ließ er sich mit seiner Familie bei Brighton nieder, dort wurde so von Besuchern belästigt, dass er schließlich ein Haus fernab der Stadt bezog. 

Er war ein Schriftsteller, der nicht nur englische Autoren beeinflusste und beflügelte. Brecht schätzte ihn sehr, was neben Kiplings Stil auch an seiner Haltung lag: ihn interessierten die Welt und die (arbeitenden) Menschen, nicht die literarischen Debatten in den Salons und literarischen Zirkeln. Er ist ein Dichter des Volkes und wird von diesem geliebt. Für manche Kritiker ist dies ein Manko.

 

Die vorliegende Ausgabe der Edition Büchergilde, erschienen im September 2015, ist wunderbar ausgestattet mit einer in den Leineneinband eingesteckten Seekarte. Der Text ist mit Illustrationen von Christian Schneider ausgestattet, der mit feiner Feder und sparsam eingesetzter Farbe die Abenteuer Harvey Cheynes, der Hauptfigur des Romans, begleitet.

Mit seiner Darstellung der Naturgewalten und des rauen Lebens auf See gibt er dem Text eine weitere Dimension,

die den Leser von Beginn an fasziniert und ganz tief in den Roman eintauchen lässt.

Übersetzer der vorliegenden Ausgabe ist  Gisbert Haefs,

der die unterschiedlichen Dialekte der Besatzungsmitglieder sehr treffend adaptiert und mit den diversen Klangfarben der sprachlichen Vielfalt Kiplings gerecht wird. 

Ein rundum gelungenes Buch also - nun aber endlich zum Roman selbst.

 

Der knapp sechzehnjährige Harvey ist der einzige Sohn eines Multimillionärs. Der Vater Harvey Cheyne ist ein Selfmademan, aus dem Waisenkind ist der Eigentümer von Eisenbahnlinien, riesigen Landstrichen mit unendlich viel Holz und Schifffahrtslinien geworden. Die Familie lebt in größtem Luxus, der junge Harvey ist ein völlig ungezogenes Kind. Er macht sich einen Spaß daraus, alle Leute und insbesondere die Mutter zu ärgern, die vor Sorge um den Jungen fast vergeht. Nasse Füße bei ihm lösen eine gesundheitliche Krise bei ihr aus. Den Vater sieht Harvey nicht allzu oft, er ist viel geschäftlich unterwegs.

 

Aus diesem Leben fällt Harvey, als er von Bord eines Luxusliners stürzt. Er wird von einem Fischer aus dem Wasser gezogen, kommt auf einen Fischkutter, der auf Kabeljaufang ist, und versucht erstmal mit seinem Geld anzugeben. Er verlangt, sofort an die Küste zurückgebracht zu werden, sein Vater würde den Kapitän fürstlich bezahlen und für die entgangene Fangsaison entschädigen. 

Dem Kapitän Disko Troop entlocken diese vollmundigen Behauptungen nicht einmal ein Lächeln. Er stellt Harvey seinem Sohn Dan zur Seite, Harvey soll einen kürzlich über Bord gegangenen Jungen ersetzen und Dan zur Hand gehen.

 

Wider Erwarten macht Harvey seine Sache gut. Er begreift schnell, dass er nun auf sich alleine gestellt ist, dass er es aber mit Menschen zu tun hat, die es gut mit ihm meinen.

Der gleichaltrige Dan zeigt ihm, was zu tun ist und Harvey entwickelt den Ehrgeiz, sich keine Blöße zu geben. 

Er erledigt alle Arbeiten zuverlässig und möchte die zehneinhalb Dollar wert sein, die Troop ihm als Lohn zugesprochen hat (sein bisheriges Taschengeld betrug zweihundert Dollar im Monat). Harvey nimmt dem Kapitän auch den Schlag ins Gesicht nicht lange übel, mit dem dieser dem Jungen den Kopf zurecht rücken wollte.

Harvey akzeptiert sein neues Leben und reift zu einem verantwortungsbewussten Menschen heran.

Anstatt in einer englischen Schule erzogen zu werden - er war auf dem Weg dorthin - geht er nun in die Schule der Seeleute und lernt, wie hart Menschen arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. 

 

Als er noch auf dem Passagierschiff war, hätte er es lustig gefunden, einfach so zum Spaß mal über ein kleines Fischerboot drüber zu fahren. Nun schämt er sich für diesen Gedanken. 

 

"Da er ein Junge und sehr beschäftigt war, zerbrach er sich den Kopf nicht zu sehr mit Denken. Es tat ihm sehr leid um seine Mutter, und oft sehnte er sich danach sie zu sehen und ihr vor allem von diesem wundervollen neuen Leben zu erzählen und wie hervorragend er seine Sache machte. Ansonsten fragte er sich lieber nicht zu genau, wie sie wohl mit dem Schock seines vermeintlichen Todes fertig würde.

... Auf der We´re Here war er ein anerkannter Teil des Ganzen; er hatte seinen Platz am Tisch und in den Kojen; und er konnte durchaus mithalten bei den langen Gesprächen an Sturmtagen, wenn die anderen immer bereit waren, dem zuzuhören, was sie seine "Märchen" über sein Leben an Land nannten."

 

Die Eltern sind natürlich völlig außer sich als Harvey verunglückt. Als sie fünf Monate später ein Telegramm bekommen, das besagt, Harvey sei zurück an Land, im Golf von Maine, durchqueren sie sofort ganz Amerika, um ihren Sohn in die Arme zu schließen.

Sein Vater erkennt augenblicklich, dass Harvey nicht mehr der verwöhnte kleine Junge ist. Er zollt Disko Troop, dem Kapitän, allergrößten Respekt, denn dieser hat in wenigen Monaten das geschafft, was Harvey Cheyne senior in Jahren nicht gelang. Schnell ist ihm auch klar, dass er diesen Mann nicht mit Geld bezahlen kann. Deshalb bietet er ihm an, Dan auf einem seiner großen, modernenTeeliner ausbilden zu lassen, um sich erkenntlich zu zeigen. Nachdem Dans Mutter eingewilligt hat, wird der Vorschlag dem Jungen selbst unterbreitet und der nimmt ihn sehr gerne an.

 

So fügt sich am Ende alles. Das Menschenbild, das Kipling zugrunde legt, ist erkennbar das, dass der Mensch im Kern gut ist. Das Gute muss ans Tageslicht gebracht werden, in Harveys Fall durch Arbeit und Verantwortung.

 

Das Schiff mit all seinen Segeln, Takelagen, grob gesagt "Einrichtungen" beschreibt Kipling so genau, als hätte er selbst sein Leben auf dem Meer verbracht. Für Leser, die eine Affinität zur Schifffahrt haben, ist das ein Leckerbissen, für Landratten eine neue Welt, die sich hier auftut.

 

Einen Einblick in den Neuen Westen - und damit die Geschichte Amerikas - gibt der Roman ebenfalls, denn Cheyne sen. ist ein Vertreter jener Schicht, die mit Erschließung des Westens zu Geld kam. Und der darunter leidet, keine richtige Erziehung (klassische Bildung) genossen zu haben. Deshalb soll Harvey jun. trotz aller Begeisterung für die Seefahrt erst einmal seine College-Ausbildung absolvieren.

 

Dieser Roman enthält so viele Details und Aspekte, die bedenkenswert sind, sie lassen sich hier gar nicht aufzählen.

Alleine die Tatsache, wie unterschiedlich die Mannschaft in Herkunft, Ethnie, Sprache, Lebenslauf ist - und sie leben auf engstem Raum zusammen. 

Die bewegende Zeremonie am Ende des Buches, als bei einem Sommerfest in Gloucester die Namen der nicht zurückgekehrten Seeleute verlesen werden und die heute an die Lesung der bei dem Anschlag am 11. September Getöteten erinnert - alles hat Harvey überstanden, hier bricht er in Tränen aus und nicht nur er.

Thema sind auch die psychologischen Folgen eines großen Unglückes: an Bord ist ein Mann, der bei einer Überschwemmung seine ganze Familie verloren hat - und mit ihr sein Gedächtnis.

Ganz kurz wird auch die "Freimaurerei" gestreift, Kipling war Mitglied einer Loge, die sehr früh auch Inder aufnahm.

Damit sind nur ein paar der Themen angerissen, die im Roman angesprochen werden und die das Schiff zu einer ganzen Welt werden lassen.

 

Es ist eines der Bücher, die man gar nicht gerne aus der Hand legt - dafür ist es zu gut und zu schön...

 

 

 

 

 

 

 

Rudyard Kipling: Über Bord

Übersetzt von Gisbert Haefs

Illustriert von Christian Schneider

Edition Büchergilde, 2015, 300 Seiten

(Originalausgabe 1896)