Sarah Knausenberger (Text) &

Elke Ehninger (Illustrationen) - Die Wildmohnfrau

"Wenige Worte können ein ganzes Leben aus den Angeln heben. ... Wenn wenige Worte ein Leben aus den Angeln heben können, muss es doch auch möglich sein, es mit Worten wieder einzurenken."

Mias Leben nimmt aufgrund einer Anzeige in der Zeitung eine völlig unerwartete Richtung. Sie ist fünf, als ihre Mutter Hals über Kopf  zusammen mit Mia ihren Mann, ihre Stadt und ihr bisheriges Leben verlässt.

 

Der Roman ist aus der Sicht Mias erzählt, die zunächst überhaupt nicht versteht, was passiert. Sie wird in Mamas Käfer gesetzt - die Geschichte spielt ab Mitter der 1980er Jahre - und von Hameln nach Stuttgart transportiert. Dort fahren sie direkt zur "Wildmohnfrau". Die beiden Frauen schauen sich an, fallen sich in die Arme und gehen nach wenigen Worten schlafen. 

 

Wer ist sie, was wissen sie voneinander?

Nicht mehr als das, was in der Anzeige stand:

 

"`Fliegen statt kriechen´ war die Überschrift. Darunter stand: `Wildmohnfrau mit Tochter sucht Schmetterling. Hast du es auch satt, für Männer auf dem Boden zu kriechen? Lass uns gemeinsam die Flügel ausbreiten und in die Freiheit fliegen. Nur motorisierte Frauen. Bitte in Stuttgart abholen.´"

 

Sie stellt sogleich ihre Bedingungen, die Frau, die weitgehend um sich selbst kreist, und wenn sie von Freiheit spricht, die eigene meint. Die nicht arbeiten kann, weil sie oft Migräne hat. Die "manchmal jähzornig" ist, dann aber auch wieder sanft und zugewandt. Die gleichaltrigen Mädchen, Mia und Toni, arrangieren sich, werden sogar recht schnell beste Freundinnen. Die Freundschaft ist nicht nur aus der Not geboren, aber auch. Denn die Mütter sind sehr aufeinander fixiert, sowohl Toni als auch Mia fühlen sich verraten. 

 

Sehr gut dargestellt ist die Stimmung der 80er, von den neuen Ernährungsideen bis zu den aufkreuzenden Sannyasin, den Anhängern des legendären Bhagwan, ein solcher ist auch Tonis Vater. Auch die wechselhaften Beziehungen Mias sowohl zu ihrer Mutter als auch zur Wildmohnfrau, beide sind geprägt von einer Mischung aus Sehnsucht nach Aufmerksamkeit, Zuneigung, Unverständnis und Ablehnung, werden plausibel und nachvollziehbar erzählt.

 

Mia wird noch viele viele Stationen mit ihrer Mutter, später auch ohne sie, durchleben. Ortswechsel, neue Menschen, Geburten und Todesfälle, tiefste Trauer, Einsamkeit, bittere Armut, bis sie eine neue Heimat findet.

Mit "Mama", die Pflegerin ist, im Altenheim wohnen, in einer Garage einen sexuellen Übergriff erleben, fliehen, zum Vater gefahren werden - vielleicht möchte Mia lieber bei ihm leben? Mia wird ausreißen, zurückkehren, ein Schuljahr in England verbringen, eine Zwischenstation in einem besetzten Haus in Berlin einlegen. Ihre Hündin Hera ist über lange Zeit ihre einzige Gefährtin, die immer da ist.

 

Eine tiefe Verbindung zu Toni bleibt bestehen. 

"Obwohl Toni und ich in den letzten Monaten kaum Kontakt gehabt hatten, fühlte ich mich ihr in dieser Zeit näher als je zuvor. Ich wusste, sie wartete auf mich. Und ich wusste noch etwas - sie glaubte an mich."

Immer, wenn Mia zurückkehrt, geht sie zu ihr, auch die Wildmohnfrau empfindet sie irgendwann als "Familie."

Davon träumt sie, denn bei aller Selbständigkeit bleibt auch die Sehnsucht nach Geborgenheit und Zugehörigkeit bestehen.

 

Neben all dem Unsteten und Schwierigen erlebt Mia aber auch, dass sie die Kraft hat, nicht aufzugeben. Manchmal hat sie einfach Glück, manchmal sorgt sie selbst dafür, dass es weiter geht, aufwärts geht. 

 

Sie fängt an zu schreiben, Gedichte, Tagebuch. Schließlich eine Jahresarbeit (sie ist an die Schule zurückgekehrt) über Gentechnik. Dafür arbeitet sie sich tief in das Thema ein, hält einen Vortrag, für den sie viele Applaus erhält und hat nun ihre Aufgabe gefunden.

 

"Ich fuhr durch die Straßen und wusste plötzlich, dass ich jetzt für immer ein Zuhause hatte. Ich, die ich von keiner Stadt mehr als zwei Straßennamen kannte, weil ich nie lange genug blieb, ich die ich nie ein eigenes Zimmer hatte und mit elf allein unterm Weihnachtsbaum saß, ich hatte meine Heimat gefunden. Sie war groß und grün, weitläufig und vertraut und konnte nie überschwemmt werden. Denn das Land der Worte steht über allem."

 

Jedes der 14 Kapitel wird eingeleitet von einem Zitat aus einem Lexikon der Pflanzen- und Naturkunde.

Diese und die wunderbaren Illustrationen von Elke Ehninger, mit der Sarah Knausenberger auch schon für den Lyrik- Collageband Wenn ich Flügel hätte, zusammengearbeitet hat, verleihen der Geschichte Raum und Tiefe.

 

Da gibt es Gedanken, die als Blätter aus dem Kopf wachsen oder ein Bett, über dem ein Bouquet an Träumen hängt. Ein Mädchen, das durch ein Getreidefeld läuft, in dem übergroße Mohnblumen wachsen. Eine gebeugte Frau, die viel auf den Schultern trägt. Immer sind es Frauenfiguren, hier und da mit Anleihen an Frida Kahlo, Picasso oder den Surrealismus, immer in harmonisch aufeinander abgestimmten Farben.

 

Die Worte werden schließlich die Welt, in der Mia ihre Heimat findet. Das ist eindrucksvoll dargestellt durch die Rückansicht einer jungen Frau, aus deren Kopf flammende Gedankengewächse sprießen und deren Rock wie eine Weide hinunter auf die Erde und in sie hinein reicht.

 

Das gelungene Zusammenspiel von Wort und Bild, sowie die genaue Zeichnung Mias und ihrer Entwicklung, lassen eine lebendige und anschauliche Geschichte entstehen.

Sie dürfte vor allem weibliche Leserinnen ansprechen, vor allem jüngere. Der Roman ist eine schöne Lektüre für LeserInnen ab zwölf Jahren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sarah Knausenberger (Text) & Elke Ehninger (Illustration):

Die Wildmohnfrau

Kunstanstifter Verlag, 2023, 168 Seiten