Mooses Mentula - Der Schildkrötenpanzer

Ein sehr sympathischer, schräg ins Leben gestellter Held, ein aufgewecktes kleines Mädchen, eine Frau, die ihrem Unglück zu entkommen versucht und ein Club der toten Dichter sind die Helden dieses Romans, der die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sprengt. Die alte Frage: wer schreibt die besseren Geschichten, das Leben oder die Dichter?, wird hier gründlich            ausgedehnt. Denn: "Eine Geschichte wird wahr, wenn man sie erlebt. Es spielt keine Rolle, ob sie an der Tastatur passiert oder in einem Wohnmobil."

 

Der Held des Romans ist Tino. Bis zum Abitur läuft alles prima, die Aufnahmeprüfung für Medizin vermasselt er jedoch zwei Mal wegen Panikattacken - fortan verlassen diese ihn nicht mehr. Mittlerweile sitzt er seit vierzehn Jahren in seiner kleinen Wohnung, sein einziger Kontakt zur Außenwelt ist sein Bildschirm, auf dem in Dauerschleife die Ansicht eines Aquariums läuft. Tino empfindet eine gewisse "Stammesverwandtschaft" mit den Welsen.

 

Einkaufen lässt sich leider nicht vermeiden, also muss er regelmäßig das Haus verlassen. Als ein kleines Mädchen mehr Interesse an ihm zeigt, als ihm lieb ist, flüchtet er in ein Antiquariat. Weil er ohne etwas mitzunehmen nicht mehr rauskommt, kauft er einen Schildkrötenpanzer. Einen echten, großen, alten, er kann ihn kaum schleppen. Außerdem drückt ihm der zwielichtige Verkäufer eine Tüte mit Büchern in die Hand, wahllos zusammengewürfelt, aber mit weitreichenden Folgen.

 

Tino fängt an zu lesen. Und nicht nur das, er fängt an zu schreiben. Denn, "wie wäre es, die eigenen Erfahrungen zu vergessen und sich Bücher zunutze zu machen? Vielleicht fänden sich darin Inhalte, die er zum Erschaffen seiner Welt benutzen könnte?"

 

Er entwirft tatsächlich neue Welten, in denen sich die Eindrücke seiner Lektüre mit seinem eigenen Leben mischen. Interessant wird es, als plötzlich Charles Bukowski in seiner Wohnung auftaucht. Er hat begriffen, dass Tino nicht ohne ein wenig Anleitung auskommt und will ihm unter die Arme greifen. 

 

"`Aber wie kann es sein, daß du hier bist? Eine Figur aus einem Buch kann doch nicht im wirklichen Leben auftauchen, und falls du der Schriftsteller Bukowski bist, liegst du schon lange tot unter der Erde.´ ... 

`Geschichten folgen ihrer eigenen Logik. Hör auf, irgend-welche Vergleiche anzustellen. Ich finde es jedenfalls absolut natürlich, hier zu sein.´"

 

Bukowski erklärt: "Jeder schreibt seine Geschichte selbst." Und "daß Geschichte und Leben eins sind. Es ist egal, ob du geschrieben oder gelebt hast, eine Erfahrung ist es in jedem Fall. Es geht also nicht ums Märchenerzählen, sondern darum, daß du dir ein Leben erschaffst." 

 

Nun, in diesem zweiten Teil des Romans, nimmt Tinos Leben eine andere Richtung. Er fängt tatsächlich an, sein Leben selbst zu schreiben. Das bringt ihn mit Mirjam, Tuuli und Lemppa zusammen, führt ihn in den hohen Norden Finnlands, schließlich in ärztliche Behandlung und dank dem Eingreifen erfahrener Autoren zu einem ziemlich guten Ende der Geschichte. 

 

Vor allem Jane Austen sorgt für Klarheit, sie war "ihm bei seinen übergreifenden Bestrebungen behilflich", während der Reiseexperte Jack Kerouac, der Meister des Dunklen, Edgar Allen Poe, und der altbekannte Dompteur des Chaos Bukowski Sorge trugen, dass die Geschichte weitergeht, wenn Tino ins Stocken kommt oder wenn sie zu "schmalzig" und harmonisch zu werden droht.

 

Vor allem kommt es den Dichtern auf die innere Logik der Erzählung an, die Wendungen dürfen unerwartet sein, die ausgelegten Fährten und Andeutungen dürfen aber nicht im Nichts verlaufen, die Personen müssen in sich stimmig sein. 

Auf diese Weise lernt Tino, seinen Schildkrötenpanzer abzu-legen (er begräbt ihn sogar im Garten) und vor allem: "

"Er mußte Vertrauen haben, er mußte glauben, daß Mirjam und Tuuli bei ihm blieben, auch wenn sie ihn in entblößtem Zustand sahen, ohne den Schildkrötenpanzer." 

 

Die auch im Tonfall sehr abwechslungsreiche Geschichte - Tinos Texte, die Sprechweisen der Dichter, die Erlebnisse mit Mirjam und Tuuli, die Handlungen, die Tinos Leben weiter-treiben, merkwürdige Begegnungen mit real-phantasierten Figuren, die Beschreibungen der Umwelt, wie einem Figuren-park, in dem Statuen lebendig werden, die Drohungen eines gewalttätigen Ex-Mannes - ich könnte fortfahren in der Aufzählung - haben einen je eigenen Sound. 

 

Der Roman ist so berührend wie spannend, temporeich wie nachdenklich. Er nimmt Elemente des Entwicklungsromans wie der Road-Novel auf, spielt gekonnt mit den Ebenen von Realität und Fiktion, lässt die Psychologie nicht außen vor, bringt nicht nur mit der vierjährigen Tuuli eine schöne Naivität ins Spiel, scheut sich nicht vor Lebensweisheiten wie "Das endgültige Schicksal ist unausweichlich, weshalb es sich nicht lohnt, Kräfte an die Angst zu vergeuden" (so E.A. Poe), und verfügt über (Selbst)Ironie und (Galgen)Humor.

 

Mooses Mentula, geb. 1976, zieht alle Register, ihm ist ein sprudelnder Roman mit einer eindeutigen Botschaft gelungen, den zu lesen große Freude bereitet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mooses Mentula: Der Schildkrötenpanzer

Aus dem Finnischen von Stefan Moster

Weidle Verlag, 2022, 256 Seiten

(Originalausgabe 2020)