Jurica Pavicic - Tabernakel

In diesen drei Erzählungen stehen Häuser im Mittelpunkt, die übermächtige Geschichten hüten. Geschrieben hat sie der 1965 in Split geborene Jurica Pavicic, einem der renommiertesten Autoren und Journalisten Kroatiens.

Auch hierzulande ist er kein Unbekannter, die Verfilmung seines ersten Romans Die Zeugen erhielt 2004 den Friedenspreis der Berlinale. Weitere Romane, die von aktuellen Problemen handeln, folgten.

 

In den Erzählungen blitzen diese Themen immer wieder durch, im Kern handeln sie jedoch von verlorenen Träumen, enttäuschten Hoffnungen, dem Wissen um Schuld.

 

Die titelgebende Erzählung "Das Tabernakel" beginnt mit einem Todesfall: Herr Vujnovic ist gestorben. Fast hundert ist er geworden, über fünfzig Jahre lebte er in der selben Wohnung. Genauer gesagt in einem Teil einer Wohnung,

die Niko gehört. Herr Vujnovic wurde nach dem Krieg bei Nikos Großeltern einquartiert, diese mussten eng zusammenrücken. Als die Wohnung für Großeltern, Eltern und zwei Enkel endgültig zu klein wurde, zog die Familie in eine Neubauwohnung am Stadtrand. Herr Vujnovic blieb, niemals zahlte er Miete, obwohl er als Angestellter der Werft sicher kein schlechtes Einkommen hatte.

 

Alle Versuche, ihn loszuwerden scheiterten. Die Prozesse vergifteten fünfzehn Jahre von Nikos Leben. Vor allem seine recht materiell orientierte Frau Maja ist erbost. Eine solche Wohnung könnte man gewinnbringend an Touristen vermieten. Im Stadtzentrum gelegen, nicht weit vom Meer.

Sie meint, weder Nikos Bruder noch ihr Sohn hätte auswandern müssen, wenn sie die Wohnung für sich gehabt hätten...

 

Nun ist Herr Vujnovic tot. Seine Zimmer werden ausgeräumt - Niko macht das, er renoviert auch neun Wochen lang,

er hat die Zeit dafür.

Für die beiden Zimmer, in welchen die Großeltern lebten,

hat er keinen Schlüssel bekommen. Er bricht die Türen auf. Der erste Raum ist leer, der zweite birgt ein Geheimnis,

das Niko fassungslos macht. In dem Zimmer befinden sich Kinderfotografien, Kleidungsstücke, Kuscheltiere etc.

 

"Er musste sich zusammenreißen, um nicht aufzuschreien.

Er betrachtete dieses gruselige, abstruse Tabernakel und versuchte zu entscheiden, ob es sich um das Werk eines Psychopathen oder eines Heiligen, eines Serienkillers oder eines mystischen Einsiedlers handelte."

 

Als er sich die an der Wand hängenden Zettel näher anschaut, erkennt er, dass es Fürbitten sind. Er lernt,

dass dem Zimmer heilende Wirkung zugesprochen wird. 

Und erkennt, dass es eine Pilgerstätte ist.

Eine junge Frau, die ein Kissen bringt und betet, fragt Niko, der wie ein Museumswärter auf einem Stuhl in der Ecke sitzt:

"Sind Sie der neue Schlüsselwart?"

Niko weiß keine Antwort.

 

Dem Hüter einer Tür, dem Besitzer eines Schlüssels oder eines Bootes wurde schon immer besondere Aufmerksamkeit zuteil, in der Literatur wie auch in der Mythologie. Es sind diejenigen, die die Menschen begleiten, ihnen zur Seite stehen, den Weg kennen. Die manchmal bestochen werden müssen, die den Eintritt auch verwehren können. Sie sind immer die Begleiter eines Übergangs ins Unbekannte.

 

Niko hat nun den Schlüssel, er ist noch unentschieden, was er damit machen soll. Er hat sich die Rolle des Schlüsselwarts nicht ausgesucht. Er wusste ja gar nicht, welches Geheimnis das Zimmer seiner Eltern barg. Er wusste nicht, welche Rolle Herr Vujnovic spielte, warum er die Wohnung so verbissen verteidigte.

 

Die Erzählung endet offen. Doch es lässt sich vermuten,

dass Niko die Rolle annimmt. Er hat Maja das Geheimnis nicht verraten, in dem letzten Zimmer befände sich eine Abstellkammer, hatte er ihr gesagt. Ihre wichtigste Frage nach Herrn Vujnoics Tod lautete "Hast du die Schlüssel?", aber das waren die anderen, die normalen Wohnungs-schlüssel. Die, die die Tür zum Geldverdienen öffnen.

 

 

Die zweite, Alice Munro gewidmete Erzählung, ist die Geschichte eines Hauses, seines Erbauers und zweier Schwestern.

 

Ivan John Moscovich, der in Amerika zu ein bisschen Geld gekommen war, erbaute im Jahr 1938 das Haus an der Küste in der Nähe von Split. Nun gehört es seinen Enkelinnen Margita und Maria. Margita nutzt das Haus im Juli, um der Hitze der Stadt zu entfliehen. Maria lebt in Belgrad, sie kommt nicht mehr zurück nach Kroatien, nachdem sie im Krieg mit Steinen beworfen worden war. Sie will das Haus verkaufen. Mit ihm würden alle greifbaren Kindheits-erinnerungen verschwinden.

 

Geschickt verknüpft Pavicic  Margitas Erinnerungen an den Großvater und an den Krieg, die Unterhaltungen mit ihrem Ehemann Bozidar und dessen Haltung dem Verkauf gegenüber mit den geschichtlichen Ereignissen des Landes.

So ist denn das einzige Stück, das Margita, die dem Verkauf schließlich doch zustimmt, aus dem Haus mitnimmt, ein Wecker. Er war von zentraler Bedeutung für Moscovich und ist es auch für Margita. Weil er "sichtbar macht, wie die Zeit vergeht."

Fraglich, ob auch die Schuld vergeht, die sich Margita auf die Schultern geladen hat, vor langer Zeit schon.

Niemand außer ihr selbst weiß von dieser Schuld und sie ist das Ereignis, das der Erzählung die unerwartete Wende gibt, die für Alice Munro so charakteristisch ist.

 

Zur dritten Erzählung sei nur gesagt, dass der Versuch, durch einen ganz speziellen Hausbau die Familie zusammen zu halten, dazu führt, sie für alle Zeit auseinander zu treiben.

Wenn der innere Zusammenhalt fehlt, hilft kein Zement dieser Welt. Dieser schlichten Erkenntnis verweigert sich

der Vater der Ich-Erzählerin bis zum Schluss. Als die Bagger anrollen, um sein abenteuerliches Bauwerk abzureißen, führen diese nur vor Augen, was längst passiert ist.

 

Pavicic hat in seinen Erzählungen einen sehr schönen Ton gefunden. Ganz unaufdringlich und nicht plakativ führt er den Leser nicht auf dem direkten Weg in das Thema hinein, er nähert sich durch Einblendungen und Rückgriffe eher verschlungen dem Kern der jeweiligen Geschichte.

Er zeigt, dass die Dinge ganz anders sein können, als sie von außen aussehen, überlässt es aber dem Leser, sich dieses Anderssein selbst auszumalen und eigene Schlüsse zu

ziehen bzw die Geschichten selbst weiterzudenken.

Das beschert einen langen Nachhall.

 

 

 

 

 

 

Jurica Pavicic: Tabernakel

Übersetzt von Susanne Böhm und Blanka Stipetic

Schruf & Stipetic ebooks, 2014

(Originalausgabe 2008 bzw 2013)