Nirzo Malek - Der Spaziergänger von Aleppo

Aleppo steht wie kaum ein zweiter Name für die Schrecken des Krieges in Syrien, er ist zu einem Synonym für Brutalität und Menschenverachtung geworden. In dieser Stadt harrt der Schriftsteller Malek aus, er will Zeuge sein und die Wahrheit jenseits der Pressefotos und Berichte liefern.

Diese Wahrheit ist die eines Poeten,

der weit über Geschehnisse hinaus ein Bild der Menschen, denen alles genommen wurde, zeichnet.

 

Eine Freundin aus Kindertagen forderte ihn auf:

"Du bist mein Zeuge ... Schreib! Ich gehe. ... Schreib. Du bist mein Zeuge ..."

 

Er ist zum Chronisten des Untergangs geworden wäre ein Begriff aus der Zeitungswelt. Ich denke, er ist der Chronist der Überlebenden, er hat sich selbst zum Spiegel ihrer Trauer, Ängste, Hoffnungen und Träume gemacht.

 

Malek ist ein Schriftsteller, der in der Weltliteratur lebt.

Er liest Puschkin, Dostojewski und Gogol, er hört Beethoven, Tschaikowsky und Rachmaninow. Wie könnte er die im Lauf eines Lebens zusammengetragenen Schätze verlassen?

"Meine Seele ist all das, was du in meinem Zimmer siehst ... Tausende Bücher. Hunderte Schallplatten, Zeichnungen, Gemälde und Photographien." Ich sagte zu ihr: "Geh du, rette du dich. Aber ich bleibe hier, in meiner Wohnung, solange meine Seele weiterlebt."

 

Dieser "Dialog des Schriftstellers" (mit sich selbst) bildet den Auftakt der 57 Miniaturen, die in diesem Buch gesammelt sind. Im Nachwort schreibt der Autor:

 

"Das Schreiben über diesen Krieg ist schmerzhaft, sehr schmerzhaft. Als ich als junger Mann von achtzehn Jahren politisch aktiv zu werden begann, war ich der festen Überzeugung, ein Sohn des Friedens zu sein, weil ich ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde."

Seiner Ansicht nach ist der "äußerst grausame  Krieg" in Syrien der "Dritte Weltkrieg" - sehr viele Nationen mischen mit, in verschiedener Form, und so ist er zu einem Sohn des Krieges geworden.

 

Malek schreibt über die vergebliche Suche nach einem Weg ins Café ohne Checkpoint, er schreibt über grün gefällte Bäume, die zum heizen verwendet werden und nur Rauch, aber keine Wärme produzieren, er schreibt über Wartende, die von einer Bombe getroffen werden, über junge Soldaten, die eine Frau in Bedrängnis bringen, über einen Scharf-schützen, der zum Spaß ein Kind abknallt, über die auf der Flucht Ertrunkenen, über Tote, die keine Ruhe finden.

 

Er schreibt über die Parks, in diesen sieht er Kinder, die vor Schreck von der Schaukel fallen, wenn es in der Nähe kracht. Er schreibt über Rückkehrer, die lieber in der Heimat sterben, als in der Fremde nicht leben zu können.

Vor seinem inneren Auge wird der Spielplatz zum Gräber-feld, er sieht Menschen durch die Straße oder den Park gehen, die - so fällt ihm später ein - schon lange tot sind.

 

Er verwischt an vielen Stellen Realität und Traum oder Alptraum. Er beschreibt, wie er durch den Krieg von der eigenen Vergangenheit abgeschnitten wird, er beschreibt eine Welt in Auflösung.

 

"Alles, was ich weiß ist, daß der orangefarbene Bus wegflog, die Soldaten verschwanden und meine Nachbarin sich auflöste ... Außer mir blieb niemand inmitten des ungeheuren Staubs und Rauchs. ... Ich fragte mich: Wohin ist die kleine Welt verschwunden, die vor ein paar Augenblicken noch da war?"

 

In dieser kleinen Szene verschwinden Bus, Soldaten und Nachbarin, weil eine Bombe sie zerfetzt hat.

Sie steht sinnbildlich für die komplette Zerstörung einer Zivilisation. 

Malek setzt niemandem ein Denkmal, dazu ist seine Prosa viel zu vorsichtig, ihr fehlen die Gewissheiten und Sicher-heiten. Er gibt den Menschen und Träumen eine Stimme. 

 

Er beschließt sein schmales Büchlein mit einer großen Hoffnung:

 

"Zum Schuß wünsche ich mir, daß dieser bis heute andauernde Krieg endet. Ich wünsche mir, daß jeder Syrer

in seine Heimat zurückkehrt, in seine Stadt, in sein Dorf,

sein Haus. Daß die Syrer ihr Land wiederaufbauen.

Daß sie Gräber ausheben, um ihre Toten angemessen zu bestatten, die Toten beider Seiten des Konflikts, und daß

sie vor jedem Grab eine hochaufragende Zyprese pflanzen und diese mit einem Blumenbeet umgeben.

Und daß der Frieden Einzug hält."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Niroz Malek: Der Spaziergänger von Aleppo

Übersetzt von Larissa Bender

Weidle Verlag, 2017, 144 Seiten

(Französische Druckausgabe 2015)