Helen Simpson - Nächste Station

Neun Erzählungen, die -bis auf eine- einen Städtenamen tragen.

Die, die das nicht tut, ist mit "Erewhon" überschrieben, unschwer als ein wenig verdrehtes "Nowhere" zu erkennen.

In diesem Niemandsland lebt ein schlafloser Mensch, der nachts darüber nachgrübelt, warum seine Frau nicht einsieht, dass er es "schwer fand, den Haushalt zu schmeißen, sich um die Kinder zu kümmern und obendrein einen Ganztagsjob zu stemmen." Er leidet unter ihrer Sprach- und Verständnis-losigkeit, er findet es empörend, dass "reifere Frauen mit dem Alter attraktiver wurden, während die Männer ihre sexuelle Anziehungskraft verloren. Eine Ungerechtigkeit der Natur."

 

Helen Simpson lässt in dieser, wie auch in den anderen Erzählungen kein Körnchen Wahrheit, die stereotyp wirken könnte, aus. Aber sie verdreht sie so herrlich und präsentiert sie so frisch und mit so viel Ironie, dass nichts abgeschmackt oder abgedroschen wirkt.

 

In der oben zitierten Erzählung sind ganz klar die Rollen vertauscht. Der Mann leidet hier unter genau den Mechanis-men, unter denen normalerweise die Frauen leiden.

Das verwirrt beim Lesen anfangs, und legt den Finger direkt in die Wunde. Das Ende von "Erewhon" (klingt wunderbar nach Fantasy, ist aber so echt): die Natur wird herangezogen, ein beliebtes Beweismittel, um die Geschlechter auf ihre Plätze zu verweisen. "Nichts würde sich ändern. Es war eben so, wie es war. Ganz naturgemäß."

 

Simpsons Helden sind allesamt im mittleren Alter angekommen. Gleitsichtbrille ist angesagt, durch diese ist die Welt plötzlich wieder scharf zu sehen. In die Ferne und in die Nähe. In die Ferne gerückt ist die Jugend, obwohl die vom Gefühl her noch gar nicht so weit zurück liegt. Jedenfalls kommt dies denen so vor, die jetzt um die fünfzig sind und sich an die Zeit vor den Kindern erinnern. Das ist nicht lange her und war doch in einem anderen Leben.

 

So geht es allen Protagonisten: eine ganz andere Empfindung der Zeit. Die einen genießen sie und wenden sich mit Hingabe dem Leben und seinen schönen Seiten zu.

Kunst und Kultur, Reisen und nicht nachlassende Lust auf Neues trösten über die ersten Zipperlein hinweg.

Die anderen vergraben sich in Ärger, Wut und Verzweiflung. "Sah so ihre Zukunft aus?, fragte sich Tracey laut, als sie wieder im Zimmer war: angespanntes Frühstücken mit einem zornigen alten Mann? Wenn ja, würde sie lieber früher als später die Reißleine ziehen." 

 

Dieses Zitat entstammt der letzten um umfassendsten Erzählung mit dem Titel "Berlin". Tracey und Adam reisen mit einer Gruppe nach Berlin, um den kompletten "Ring" Wagners zu sehen und zu hören. Beide sind um die Fünfzig, die Reise hätte mit Adams Mutter stattfinden sollen, doch diese ist kurz vor der Reise verstorben. Adam hat einen tiefen Hass auf die Musik Wagners, weil sein Vater die Familie mit dieser regelrecht quälte. Worum geht es im "Ring"?

"Kurz gesagt geht es darum, dass die Gier nach Gold, nach Besitz und Macht zu Vertragsbruch, Liebesverlust und zur Abkehr von der Natur führt", so steht es in der Broschüre der Reiseagentur. 

 

Anhand der vier Teile des Opernzyklus führt Simpson durch die Ehe Traceys und Adams. Trennung liegt in der Luft, tiefe Enttäuschung Traceys, aber auch ihr Wille zum Neuanfang.

Er hat in ihren Augen ihre Liebe verraten. Sie möchte weder Rache noch Wiedergutmachung von ihm, sie möchte Anerkennung. "Ja, Anerkennung! Sag, dass dir klar ist, was du aus freien Stücken getan hast, obwohl du mich liebst und gewusst hast, dass es mich verletzen würde!"

 

Diese privaten Szenen sind in die Dynamik der Reisegruppe, dem Fortgang der Oper und der Geschichte Deutschlands,

die aus der Sicht der englischen Gruppe gesehen miterzählt wird, eingebettet. 

Die Musik bietet vor allem Tracey ein solches Klangbad,

sie weckt Erinnerungen und Gefühle in ihr, sie ist belebend, emotional wie intellektuell, sie gibt Weite, Großzügigkeit.

Und stellt grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von persönlicher Freiheit und Loyalität. 

Die Oper verändert die Beziehung der beiden. Wunderbarerweise schläft Tracey am Ende einfach so ein.

Wie ein Kind am Ende eines langen Tages.

 

 

Helen Simpson (geb. 1959) lässt keine Wehmut aufkommen, vielmehr kommt die Sehnsucht zu Wort. Sie bricht mit Stereotypen, sie verweist auf die Ambivalenz des in die "Nächste Station" eingefahrenen Lebens-Zuges, die noch nicht die Endstation ist. Ihre Protagonisten sind weiblich

und männlich. Frauen wie Männer erleben Veränderungen,

die sich an Wendepunkten ergeben.

Die Figuren sind originell, die Geschichten warmherzig, hintergründig-komisch, der Blick unverstellt, der Ton ironisch.  Es fehlt nicht die Tiefe, aber es fehlt die Schwermut.

Es ist ein wunderbares Buch für all jene, die in der Mitte angekommen sind und nicht aus dem Blick verlieren sollten, was sie haben. Es hilft den Blick von dem, was man nicht mehr hat, abzuwenden. Die Reise geht weiter!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Helen Simpson: Nächste Station

Übersetzt von Michaela Grabinger

Kein & Aber Verlag, 2018, 208 Seiten

(Originalausgabe 2015)