Susan Taubes - Nach Amerika und zurück im Sarg

Sophie Blind, geborene Landsmann, die Heldin dieses Romans, ist "die Tochter eines sehr großen Mannes ... und die Enkelin des Oberrabbiners von Budapest und die Urenkelin eines ganz berühmten Rabbis ...", so erklärt Omama Landsmann dem Kind Sophie, wer es sei. Für die erwachsene Sophie ist es nicht so einfach. Sie ist nicht nur ein Glied in einer Kette mit berühmten männlichen Vorfahren, einem berühmten Ehemann dazu, doch wer ist sie?

 

Der Roman beginnt mit einer Traumsequenz.

Die Ich-Erzählerin liegt in einem fremden Zimmer, öffnet und schließt die Augen, versucht, sich zu orientieren.

Bis sie begreift: "Ja, ich bin tot."

Sie ist vor kurzem verstorben!, überfahren von einem Auto.

 

Sophies Tod ist der Ausgangspunkt, von dem aus sie in einer Art umgekehrten Autobiographie ihr Leben erzählt.

Sie blickt zurück, setzt aus Träumen und Erinnerungen ihre Vergangenheit zusammen, bis zu ihrer frühesten Kindheit in Budapest. 

 

Dort kam sie 1928 als Tochter eines Psychoanalytikers zur Welt. Für ihre Mutter ist die Ehe, aus der Sophie als einziges Kind hervorgeht, bereits die zweite, und auch diese Verbindung ist nicht von Dauer. Sophie ist zehn, als ihre Eltern sich scheiden lassen, kurz darauf verlässt sie mit ihrem Vater Europa. Die beiden emigrieren in die USA. Zunächst leben sie in Pittsburgh, dann ziehen sie nach New York. Dort studiert Sophie und lernt ihren späteren Ehemann Ezra Blind, einen Philosophieprofessor, kennen.

 

Das Thema "Ehe" nimmt großen Raum ein in diesem Roman.

 

Die Ehe der Eltern ist keine glückliche, ist die Mutter doch eher ein Studienobjekt für den Vater, als eine Partnerin.

Die anfängliche große Verliebtheit schwindet spätestens mit der Geburt Sophies vollends dahin, weil sich Rudolf ganz und gar der Tochter zuwendet. Im Lauf ihrer Kindheit wird Sophie "zur Verbündeten ihres Vaters gemacht".

Die Mutter ist für die Tochter eine meist Abwesende,

niemals entwickelt sich ein vertrautes Verhältnis zwischen den beiden.

 

Die Ehe von Sophie und Ezra, geschlossen 1947, währt fünfzehn Jahre, sich aus ihr zu befreien ringt Sophie alles ab, was sie an Kräften aufzubieten hat.

Zwar lässt Ezra ihr viel Freiheit, aber die Ehe an sich ist für ihn eine heilige Institution: "Sophie Blind bleibt meine Frau, bis der Messias kommt", verkündet er.

 

Sophie stellt ihrer eigenen Beziehung die ihrer Eltern gegenüber. Im Kern geht es in diesem Roman jedoch um Selbstermächtigung. Um den Wunsch, selbst bestimmt zu leben und sich zu entwickeln. Und auch darum, die verwirrende Tatsache zu akzeptieren, dass das Ich aus so vielen verschiedenen Facetten besteht und trotz aller Suche die Frage Wer-bin-ich? niemals wird beantwortet werden können.

 

Nach dem Tod vielleicht?

 

Ist die Scheidung eine Metapher für den Tod eines alten und den Beginn eines neuen Lebens?

 

"Der Prozess der Nichtigkeitserklärung, der in der Nacht ihrer Verlobung mit Ezra begonnen hatte, wurde in der öffentlichen Hochzeitsfeier vollendet; es war, als würde man ausgehöhlt - im dankbaren Wissen, nur eine Gussform zu sein-, um dann sehr langsam mit einer dünnen, gleich-mäßigen Flüssigkeit aufgefüllt zu werden, die allmählich erhärten würde."

 

Sophies vom Tode her erzählte Lebensgeschichte ist der Versuch, diese erhärtete Flüssigkeit, diese Schichten an Fremdem, das sich im Selbst verfestigt hat, abzutragen.

Wenn jeder Lebensabschnitt den davor liegenden in Vergessenheit "versiegelt", türmt sich ein Berg an

"nichterinnerter Vergangenheit" auf.

Diese Vergangenheit freizulegen ist Sophies Anliegen.

 

Der Roman, erschienen 1969 unter dem Titel Divorcing

ist ein faszinierender Text. Er ist unglaublich vielfältig, enthält satirische Szenen, Traumsequenzen, eine dramatisch inszenierte Gerichtsverhandlung mit ungarischen Rabbis,

er erzählt von erotischen Begegnungen, vom Alltag einer modernen Intellektuellen. Er erzählt von vielen Familien-mitgliedern, die als Nebenfiguren auftreten und ganze Welten reflektieren, er erzählt von Reisen, Besuchen, Bindungen und der Auflösung dieser Bindungen.

 

Susan Taubes, geb. Feldmann, kam 1928 in Budapest zur Welt. Sie emigrierte als Elfjährige mit ihrem Vater, dem berühmten Psychoanalytiker Sándor Feldmann in die USA, war von 1949-61 mit dem charismatischen Judaisten Jacob Taubes verheiratet, lehrte Religionswissenschaft an der Universität, arbeitete am Theater, hatte zwei Kinder.

Der Roman trägt starke autobiografische Züge, eine mögliche Lesart sei, ihn als "verlängerte(n) Abschiedsbrief einer Selbstmörderin" zu sehen, schreibt Leslie Jamison in dem Essay "Das freischwimmende Ich", der dem Roman beigefügt wurde. Vielleicht. Wichtiger ist in meinen Augen jedoch, dass Susan Taubes einen Roman von großer Kunstfertigkeit und gestalterischer Freiheit verfasst hat.

 

Ivan, Sophies Liebhaber zum Zeitpunkt ihres Todes, fragt, woran sie momentan schreibt:

"Das Buch, an dem ich arbeite? Ja, ich habe damit begonnen. ... Es handelt von einer Toten..."

"Ich entsinne mich, du hast mir aus Paris davon geschrieben."

"Dies ist etwas anderes. Es ist die Tote, die erzählt."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Susan Taubes: Nach Amerika und zurück im Sarg

Aus dem amerikanischen Englisch von Nadine Miller

Mit einem Vorwort von Sigrid Weigel

und einem Essay von Leslie Jamison

Matthes & Seitz, 2021, 372 Seiten

(Originalausgabe 1969)