Ralf Rothmann - Milch und Kohle

Dieser im Jahr 2000 erschienene Roman Rothmanns liegt - was die Geschichte angeht - zeitlich gesehen nach dem 2015 erschienenen Roman "Im Frühling sterben." 

"Im Frühling sterben" widmet sich den letzten Wochen des Krieges, die der damals  siebzehnjährige Vater als sogenannter Freiwilliger bei der SS verbringt. Ganz am Ende dieses Romans willigt Liesel ein, Walter zu heiraten. Sie ist so jung wie er und möchte nicht als Melkerin auf einem Bauernhof in Schleswig bleiben. Sie will in die Stadt. Das junge Ehepaar zieht in den Ruhrpott, wo der Vater unter Tage arbeitet.

 

Dieses Leben ist Thema des Buches "Milch und Kohle", angesiedelt in den späten sechziger Jahren, erzählt aus der Perspektive des älteren Sohnes Simon. Dieser ist nun fünfzehn, sollte eigentlich in der Schule glänzen, hat aber gänzlich andere Probleme.

 

Die vierköpfige Familie - Simon hat noch einen jüngeren Bruder, Thomas genannt Traska - lebt beengt in einer kleinen Wohnung. Der Vater ist selten zu Hause und wenn, dann ist er zu müde, um sich den Vergnügungen hinzugeben, die seine Frau Liesel so liebt. Sie lebt aufs Wochenende hin: jeden Samstag näht sie sich nach den neuesten Burda-Schnitten ein neues Kleid, lackiert sich die Fingernägel, sprayt ihre Haare in Form und geht tanzen ins Café Maus.

Oft zusammen mit ihrer Freundin, die die Kinder "Tante" Anita nennen. Freundinnen als Tante zu titulieren ist eine Marotte der Sechziger, nicht nur im Ruhrpott verbreitet.

 

Zuerst einmal ist zu betonen, wie trefflich es Rothmann gelingt, den Zeitgeist zu evozieren. Die Wortwahl der Protagonisten, die Ausstattung der Wohnungen, die Kleidung (Mädchen tragen gerne Schlaghosen aus Trevira, die Jacken der Jungs sind mit demselben Stoff gefüttert, aus der die Hose ist, die nass am Körper trocknen muss, damit sie richtig gut sitzt), die Vorliebe für Wellensittiche, der Sonntags-Sauerbraten, spitzte BHs, die Zigarettenmarken - überhaupt die Selbstverständlichkeit, mit der alle überall rauchen, die Gewohnheit alles mögliche auf Raten zu kaufen etc - der Leser kann ganz tief eintauchen in eine Zeit, die voller Umbrüche war, und vielleicht gerade deshalb stark festhielt am Gegebenen.

 

"Wieso sind wir eigentlich nicht auf dem Land geblieben damals. Ich meine, da hatten wir doch alles. Es ging uns gut."

"Ja, alles", sagte sie spöttisch. "Inklusive Kuhmist, Schlamm und Schweinegülle, eine große Grube gleich hinterm Haus." "Und hier, im Ruhrpott? Hier hast du Schulden, rußige Wäsche und Staublunge, oder was?" "Hier ist Stadt: Asphaltierte Straßen, nette Nachbarn, ein Fernseher und jeden Samstag Tanz bei Maus." "Wenn er dich lässt", sagte ich."

 

Um ein wenig Abwechslung in den tristen Alltag zu bringen, lädt der Vater immer wieder Gäste ein: Italiener, die im Ledigenheim wohnen. Sie bringen exotische Gemüsesorten mit, kochen Spaghetti, tischen Rotwein auf und verzaubern die Damen mit flotten Sprüchen und guten Umgangsformen. Die Mutter verliebt sich in Gino.

 

Eine Reihe von Unglücken ereignet sich: bei einer Gasexplosion, durch die ein Stollen einstürzt, werden dem Vater beide Beine gebrochen. Er liegt im Krankenhaus in einem Achtbett-Zimmer. Währenddessen übernachtet Gino in der Wohnung der Eltern. Traska findet ihn zuerst auf dem Sofa schlafend, später liegt er in Vaters Bett.

Traska reagiert darauf sehr stark: er hat immer wieder Absencen, später bekommt er schwere Anfälle. Es liest sich wie Epilepsie, aber es fällt keine Diagnose.

Der Arzt sagt, das sei "seelisch." 

"Walter, was heiß das denn jetzt?" fragt die Mutter.

"Weiß nicht, hat was mit Gefühl zu tun."

 

Traska, schon immer ein wenig Sorgenkind, hat Angst, die Mutter würde die Familie verlassen. Das wird nicht explizit ausgesprochen, wie alles, was Gefühle angeht, nicht thematisiert wird.

 

Sehr viel wird im Alkohol ertränkt. Das Likörfläschchen steht nicht weit von der Schnapsflasche entfernt, Autofahren ist kein Grund, das Bier stehen zu lassen und unter dieser Decke von leichtem Dauernebel braut sich eine Aggresivität zusammen, die einem Dampfkessel gleichkommt.

 

Simon ist sehr viel mit dem ein wenig älteren Pavel zusammen. Dieser hat im Garten ein Zelt stehen, in dem die beiden Jungs oft übernachten. Er ist auch erst fünfzehn, arbeitet aber schon auf der Zeche und hat ein Moped.

Das wird sofort frisiert, gemeinsam rasen die beiden durch die Gegend, was "der Hobel" hergibt. Pavel ist auf der Suche nach Abenteuer und Mädchen, er steht auf Kriegsfuß mit seinem Vater, lässt sich von niemandem mehr etwas sagen.


Eines Nachts können die beiden Freunde nicht schlafen.

Sie nehmen das Moped und fahren durch die Gegend auf der Suche nach einer Kneipe, die um drei Uhr noch offen hat.

Sie werden fündig: im Café Maus ist noch Betrieb. Es ist die gleiche Gesellschaft, die gerne bei Simons Eltern feiert:

Gino und Camillo, Frau Streep (die in Scheidung lebt und eigentlich gar nicht mehr unterwegs sein dürfte mit Herrenbegleitung), das Ehepaar Karwendel, Tante Friede, Simons Mutter. Alle sind reichlich angetrunken, die Bemerkungen sind mehr als schlüpfrig, anzüglich und zweideutig-eindeutig, die Röcke und Dekolletés sind verrutscht. Kurz gesagt: die tagsüber aufgesetzte Hochanständigkeit ist vollkommen verschwunden.

Frau Streep macht Pavel an, Herr Karwendel versucht Simons Mutter zu küssen, der Wirt ruft mehrmals erfolglos "Feierabend", Simon wird mehr oder weniger gezwungen, mit seiner Mutter Walzer zu tanzen. Die Anständigsten sind die beiden Italiener.

 

In dieser Café-Szene verdichtet sich die Atmosphäre der Endsechziger, des Wirtschaftswunders mit seinen Schattenseiten, die aufgestauten Gefühle, das ständige

Unter-den-Teppich-kehren, die Suche nach der großen weiten Welt, die um die Ecke endet.

Dazwischen suchen die Jugendlichen nach Vorbildern, nach einem Leben, das nicht im Suff endet und auch nicht unter Tage, sie finden keinen Halt.

Am teuersten bezahlt Pavel: er rast mit dem Auto des Vaters gegen einen Brückenpfeiler und stirbt.

 

Das Buch endet mit dem Tod der Mutter. Sie schwer krank, der Vater ist ein knappes Jahr vor ihr gestorben (sie haben sich nicht scheiden lassen), Traska ist bei ihrer Beerdigung nicht da, er macht Urlaub in Italien. Bei der Beerdigung des Vaters war Simon in den USA - die Familie ist zerfallen.

 

Der Titel "Milch und Kohle", löst die Assoziation "Milch und Honig" aus. Doch die Geschichte beschreibt keinen paradiesischen Zustand, auch wenn die BRD gerne als ein Land dargestellt wurde, das dem Paradies sehr nahe kommt.

So nah, wie die Vögel, die im Keller von Simons Eltern in großen Käfigen leben. Alleine die Vorstellung, neben den Kohlevorräten für den Winter Volieren stehen zu haben mit Vögeln, die weder Licht noch frische Luft bekommen, ist beklemmend. Und legt den Gedanken nahe, dass die Menschen genau so lebten, wie die Vögel. Nur dass sie auch noch ihre Raten bezahlen mussten.

 

Rothmann ist ein sehr guter Stilist. Der schreibt so plastisch, man sieht die Personen vor sich, die Räume, in die sie gestellt werden, man riecht den Kohl- und Kohlemief.

Und er beherrscht die wunderbare Kunst, seinen Protagonisten nahe zu kommen, ohne sie bloß zu stellen.

Er urteilt nicht, er beschreibt. Er beschreibt sie als Kinder ihrer Zeit, deren Träume vom Leben zurechtstutzt werden.









Ralf Rothmann: Milch und Kohle

Suhrkamp Verlag, 2000, 210 Seiten

Taschenbuch Suhrkamp, 2002, 210 Seiten