Veza Canetti - Die gelbe Straße

 

 

Liest man den Namen "Canetti", wird er automatisch durch den Vornamen "Elias" ergänzt. Man denkt an den großen Autor, der 1981 den Nobelpreis für Literatur bekam.

Seine Frau Veza schrieb ebenfalls einige Romane, sie machte sich aber in erster Linie einen Namen als Übersetzerin aus dem Englischen.

 

Geboren wurde sie 1897 in Wien, 1963 verstarb sie in London. Kennengelernt haben sich Elias und Veza 1924, zehn Jahre später heirateten sie. 

 

Die beiden führten eine ziemlich schwierige Ehe, denn Elias Canetti hatte meist noch eine (manchmal mehrere) Frauen neben Veza, er war sehr charismatisch, aber auch egoistisch und eifersüchtig. Veza hielt jedoch immer zu ihm und förderte seine schriftstellerische Arbeit nach Kräften. Wie sehr (ob überhaupt) er ihr Schreiben unterstützte, ist nicht bekannt.

 

Der Roman "Die gelbe Straße" erschien 1932 im Berliner Malik Verlag, zwei zuvor geschriebene Romane wollte Veza nicht veröffentlichen. 

In den 30er Jahren wurden einige Kurzgeschichten von ihr in der Wiener "Arbeiter-Zeitung" gedruckt, und zwar unter vier verschiedenen Pseudonymen. Sie hat sich nicht auf die Suche nach einem Verlag gemacht, bei dem sie regelmäßig veröffentlichen konnte, dazu waren die Zeiten nicht angetan. Das Exil in London, die Arbeit für den Lebensunterhalt und vielleicht auch die Schwächung durch all das, was man in London aus Deutschland erfuhr verhinderten eine regelmäßige schriftstellerische Arbeit.  

Erst 1990 kam eine Neuauflage der "Gelben Straße" bei Hanser heraus.

 

Der Roman setzt sich aus fünf Erzählungen zusammen, das Bindeglied ist die Straße der Lederwarenhändler in Wien.

In allen Teilen des Romans tauchen die gleichen Personen auf, aber es gibt keinen eigentlichen Helden. Mal tritt eine Person in den Vordergrund und wird genauer betrachtet, dann wieder wird jemand aus den Augen verloren und verschwindet.

Erstes und letztes Kapitel halten die Geschichte zusammen: wir lernen gleich im ersten Satz "Runkel" kennen. Sie hat missgestaltete Beine, sitzt im Kinderwagen und wird von ihrer Bediensteten aufgrund von unklaren Angaben, wo Runkel hingefahren werden möchte, vor ein Motorrad geschoben. Doch es kommt nicht Runkel ums Leben, wie sie es sich für einen Moment gewünscht hatte, sondern Rosa, ihr hingebungsvolles Dienstmädchen.

Im letzten Teil des Romans stirbt Runkel: in ihrem Laden ist ein Turm von Waren zusammengefallen, hat sie unter sich begraben und sie erstickt.

Ihr Tod löst bei den Menschen, die in der Straße wohnen und täglich bei Runkel im Seifenladen oder in der Trafik (Tabak-und Zeitungsladen) einkaufen oder auch nur vorbeischauen nur bedingt Trauer aus. Runkel war keine Frau, die sich beliebt gemacht hat, sie war hart zu sich selbst und zu anderen.  

 

Und einige andere Personen, die die Geschichten bevölkern sind ebenfalls nicht solche, die man unbedingt sympathisch findet.

Da ist der Herr Vlk, der niemanden ansieht, mit niemandem verkehrt, jeden Tag auf die Minute genau das Gleiche macht und am Ende alles gelb sieht und in den "Steinhof" überführt werden muss.

Oder Herr Iger, der nach außen hin den großen Wohltäter spielt und immer große Summen spendet, seiner Frau gegenüber aber nicht nur extrem geizig ist, sondern an ihr ererbtes Geld will und nicht einmal davor zurückschreckt, auch die gemeinsamen Kinder zu quälen.

Oder der "Tiger", ein Kaffeehausbesitzer, bei dem eine in finanzielle Schwierigkeiten geratene Dame Klavier spielt: natürlich will er, dass sie sich erkenntlich zeigt, dafür dass sie bei ihm etwas Geld verdienen darf.

Es gibt aber nicht nur "böse" Männer, auch manche Frauen kommen nicht gut weg: z.B. die Hatvany, die gegen eine horrende Gebühr Dienstmädchen vermittelt (die Gebühr bezahlen die Mädchen), und für die klar ist: ein Dienstmächen muss nicht nur Böden putzen.

 

Einige freundliche Frauen gibt es aber auch. Eben jene Pianistin, die zusieht, wie sie die Familie über Wasser hält, Frau Iger, die es nicht schafft, sich von ihrem Mann zu trennen (nach damaligem Scheidungsrecht würde sie ihre Kinder bei dem gewalttätigen Mann zurück lassen müssen), einige der einfachen Bediensteten, die nach dem gesunden Menschenverstand handeln.

 

Der Leser taucht ein in die Welt dieser Straße, lernt ihre Bewohner kennen und wenn auch einige Personen nicht so sind, dass man gerne mit ihnen befreundet wäre, so ist es doch kein tristes oder klagendes Buch. Denn Veza Canetti schreibt mit genügend Ironie und Sprachwitz, sie hat ein modernes Frauenbild und Sympathie für ihre Frauengestalten.

Diese sind nicht glattgebürstet, sie haben Ecken und Kanten und viele Eigenheiten resultieren aus der Biografie dieser Menschen.

 

Die Farbe "Gelb" wird generell assoziiert mit der Sonne, den ersten Frühlingsblumen, mit Freude und Aufbruch, aber auch mit Eifersucht, Neid, Misslaunigkeit und Misanthropie.

In der "Gelben Straße" werden diese Deutungen durchleuchtet, sie ist nicht nur gelb wegen den Lederwaren, sie repräsentiert eine Welt, in der viele Erscheinungsformen dieses Assoziationsfeldes zum Leben erweckt werden.

Veza Canetti versteht es, echte, glaubhafte Menschen zu entwerfen, ihr Mitgefühl für Benachteiligte ist nicht sentimental, eher solidarisch. Ihr Stil ist zu sehr von Witz und Prägnanz gekennzeichnet, ihr Denken zu klar, um jemals ins Gefühlige abzurutschen.

 

 

 

 

 

Veza Canetti: Die gelbe Straße

Fischer Taschenbuch, 2009, 180 Seiten

(Erstveröffentlichung 1990)