Hartmut Lange - Das Haus in der Dorotheenstraße

 

 

 

Hartmut Lange ist einer der Meister der zeitgenössischen Novelle. Er hat schon viele Bände veröffentlicht, nun liegen wieder 5 Texte vor, die den Leser einigermaßen ratlos zurücklassen.

Sie spielen in bzw um Berlin, der Teltowkanal zieht sich wie ein Faden durch die Geschichten, ohne sie jedoch miteinander zu verbinden.

 

Gemein ist den Novellen, dass jede einzelne die Frage:

„Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ oder „Wie entsteht Realität?“ stellt.

 

Die Protagonisten werden von merkwürdigen Erscheinungen bedrängt.

Eine Frau sieht den Schatten ihres Mannes an der Wand entlang streifen, ein erfolgreicher Bürgermeister wird die Krähe auf dem Rücksitz seines Autos nicht los, ein anderer sieht und hört eine berühmte Cellistin im Wald musizieren, doch sie ist bereits vor 25 Jahren gestorben – alle sind von der Realität dessen, was sie wahrnehmen, vollständig überzeugt und mag das noch so absurd sein.

 

Die erste Novelle hat ein klares Ende, man weiß, was mit dem Mann, der überraschend seine Frau verlor, passierte. Die anderen Texte enden offen, mit vielen Möglichkeiten eine Erklärung zu finden, vielen Gedanken, wie die Situationen zustande kommen konnten.

Viel Stoff also, über das Gelesene nachzudenken.

 

Diese, den Inhalt betreffenden, Punkte würden schon reichen, um das Buch uneingeschränkt zu empfehlen.

 

Ein weiterer Grund ist die Sprache. Sie ist klar, aber nicht knapp, gradlinig, aber nicht direkt. Lange schiebt Informationen gerne in Nebensätze, sie erzwingen ein relativ langsames Lesetempo und hohe Aufmerksamkeit und schaffen eine dichte Atmosphäre, die den Leser Krähen und Schatten sehen lässt. Sie zielt aber nicht auf eine emotionale Aufnahme, es wirkt alles sehr vernünftig und rational. Und wahrscheinlich deshalb um so bedrohlicher.

 

Eine kleine Leseprobe:

 

„Als Andreas Schmittke, er fuhr beinahe im Schritttempo, in die Innenstadt zurückkehrte, spürte er, wie erregt er war, hatte wohl, entgegen seiner Gewohnheit, etwas zu viel Sekt getrunken, und als er endlich die Knesebeckbrücke hinter sich hatte und auf der wenig befahrenen Strecke nach Schönow unterwegs war, hier gab es keine Straßenbeleuchtung mehr, hier war alles dunkel, als er glaubte, was er doch vorgehabt hatte, endlich allein zu sein, hatte er das Gefühl, es säße ihm wieder jemand im Rücken. Es war ein in sich geduckter, überaus schmaler Schatten, und Andreas Schmittke weigerte sich, in den Rückspiegel zu sehen, um zu überprüfen, ob es eine Krähe war.“

 

Ich denke, diese beiden Sätze geben schon einen guten Einblick in den Stil Langes.

Ich finde ihn sehr elegant und durchdacht, zugleich dunkel unter einer glatten Oberfläche und auch dramatisch.

Es ist ein Stil, der auffällt, der den Autor weit über das Durchschnittliche heraushebt.

Sehr lesenswert!

 

 

 

 

 

 

 

 

Hartmut Lange:

Das Haus in der Dorotheenstraße

Diogenes Verlag, 2013, 128 Seiten

Diogenes Taschenbuch, 2016, 128 Seiten