Sarah Kirsch - Märzveilchen

 

 

Dieses Tagebuch, das die Zeit von Dezember 2001 bis September 2002 umfasst, ist das letzte veröffentlichte Buch der großen Lyrikerin.

Es erschien 2012, im Mai 2013 ist Sarah Kirsch verstorben.

 

In diesem sehr leicht zu lesenden Buch begleitet der Leser die Schriftstellerin neun Monate lang durch ihr Leben, präziser: durch ihren Alltag. 

 

Täglich wird das Wetter notiert, die Spaziergänge erwähnt, sie schreibt auf, was sie im Fernsehen angeschaut hat (vor allem liebt sie Naturfilme - die Biologin wurde nie von der Dichterin verdrängt), ob sie die Post erledigt hat, mit wem sie Kontakt hatte, oft auch, wie es ihren Tieren geht.

Nichts Weltbewegendes also.

 

Und doch bleibt auch das Weltgeschehen nicht außen vor: Bin Laden, immer wieder Afghanistan, die Einführung des Euro, dann im Sommer 2002 das schlimme Hochwasser - diese Ereignisse finden ebenfalls ihren Niederschlag im Tagebuch.

 

Insgesamt ist es eine ganz lässige Mischung von eher Unbedeutendem und sehr sehr Wichtigem und dieses Durcheinander macht den Reiz aus.

 

Eigentlich interessiert es ja niemanden, wann eine so hochkarätige Dichterin eine Nadel in pink gestrickt hat, aber wenn es quasi neben der Mitteilung, dass der Luftfahrtminister Afghanistans von Pilgern totgeschlagen wurde, weil der Flieger nicht pünktlich kam, steht, ist das eine andere Sache.

 

Hier schreibt Sarah Kirsch ganz privat. Immer war sie ein politisch denkender Mensch, nicht erst ihre Ausbürgerung aus der DDR machte sie dazu. 

 

Ihre offene, meist reimlose Lyrik, die getragen wird vom Rhythmus findet ihre Inspiration häufig im Alltag, in der Natur. 

Ganz präzise Beobachtungen sind Ausgangspunkt für den Ausdruck der Gefühle des lyrischen Ich oder sie nehmen eine Wendung ins Politische.

 

Insofern darf die Farbe der Wolle selbstverständlich erwähnt werden, sie ist ein kleiner Punkt auf der Farbskala der mit Worten gemalten Umgebung, der Welt, in der die Dichterin lebt.

 

Manchmal lässt sie auch die Krallen aufblitzen, so, wenn sie über den Literaturbetrieb oder manche ihrer Kollegen schreibt. 

Grass´ Roman "Im Krebsgang" findet sie unlesbar, hält ihn für "bürokratisches Gerede". Handke mag sie offenbar auch nicht, Christa Wolf wird zu "Tante Christa", die für ihren "neuen Weißwäscherromahn" den Leipziger Bücherpreis bekommt.

Spricht hier der Neid? Ich glaube nicht, Kirsch bevorzugt eine andere Art von Literatur: sie will fliegen beim Lesen - und das kann man bei Grass und Wolf wirklich nicht.

 

Sie liebt V.S. Naipaul, den sie immer wieder liest, der ihr eine andere Welt zeigt. Denn sie hat sich nicht abgewandt, auch wenn sie in einem beschaulichen Dorf in Holstein lebt.

 

Einen guten Eindruck von ihrer Art Tagebuch zu schreiben, gibt der Eintrag vom 1.Mai 2002, den ich in Gänze zitieren möchte:

 

"Tach der Arbeet mit Schrödern in Leipzig. Prenzelberg und Kreuzberg mit brennende Autos und Steine. In Hamburg ooch Remmidemmi, im Chancen-Viertel. Es hat ausführlich geregnet. Die Fenster auf der Südseite sind vom Vogelschiet befreit. Alles regelt sich von selbst. Bis in den Nachmittag rein an meinem Textlein gesessen. Während es wieder Regen an meine Scheiben gehaun hat. Einen Sibirienfilm gesehen von 1991 wo es dermaßen trostlos war, dass man fürchten musste der Filmemacher erschösse sich gleich. Solch reiches Land und alle an der Armutsgrenze. Kofi Anan ruft seine Untersuchungsgruppe zurück, die in Genf wartete, die Vorgänge in Djenin aufzuklären. Israel hatte das rausgezögert, praktisch unterbunden. Es ist eine Schande! Die UN eine zahnlose Ente. Abends mit Maxe "Die schöne Müllerin" eine Inszenierung von Christoph Marthaler gesehen, vom Schauspielhaus Zürich. Ach war das herrlich! Sie sangen während sie in den Betten lagen, fielen die Treppen runter, es war alles  wie aus der Klapsmühle, wirklich. Eine Verneigung vor Herrn Schubert bei rollendem Klaviere."

 

Diese nahtlose Aneinanderreihung von allem möglichen erscheint mir nicht banal. Jeder Satz ist ein Mosaiksteinchen in einem realistischen Lebensbild.

Die Ideen, die phantastischen Einfälle, die großen Entwürfe stehen nicht im Tagebuch.

Die finden sich in den übrigen Texten. Hier begegnen wir einem Menschen, ganz privat.

 

 

 

 

 

 

 

 

Sarah Kirsch: Märzveilchen

DVA, 2012, 237 Seiten