Truus Matti - Apfelsinen für Mister Orange

 

 

Dieses Buch für Leser ab 10 Jahren spielt in New York.

Es beginnt im September 1943, die Hauptperson ist Linus, der gerade "neue" Schuhe bekommen hat, die sich seinen Füßen noch nicht angepasst haben. Dass die Schuhe an den jeweils jüngeren Bruder weitergegeben werden ist normal in der Familie Mueller, die einen Gemüseladen betreibt.

 

Diesmal hat das Schuheweitergeben einen bestimmten Grund: der älteste Sohn Albert, genannt Apke, hat sich sofort an seinem achtzehnten Geburtstag freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Was bedeutet, dass er nach Europa fährt, um gegen Hitler zu kämpfen.

Er wurde also neu eingekleidet. Auch sonst rücken alle Brüder eine Stufe auf: Simon übernimmt Apkes bisherige Arbeit bei der Post, Linus liefert nun an Simons Stelle Obst und Gemüse aus und zieht in Apkes Bett. Max ist jetzt der Größte von den Kleinen, d.h. er muss auf Wilke und Sissie aufpassen.

Es ist eine kleine, wohl organisierte und bedachte Welt, in der jeder seinen Platz und seine Aufgabe hat. Die Eltern teilen sich die Arbeit in Haus und Geschäft, sie sind nicht reich, aber auch nicht arm.

 

Linus hat von Apke den Auftrag bekommen, sich um die Comicsammlung zu kümmern. Immer die neuen Hefte zu kaufen, sorgfältig damit umzugehen. Das müsste er Linus nicht extra sagen, denn der ist ein ebenso großer Comicfan wie Apke. Dieser zeichnet auch selbst Bildergeschichten um den Helden Mister Super, eine Adaption von Superman. Mit genau den gleichen Eigenschaften. Und er möchte später professioneller Comiczeichner werden.

 

Linus hat nun erstmal damit zu tun, seine Auslieferungsrunde gut zu organisieren. Er lernt die Restaurants und Leute kennen, und er darf auch gleich einen neuen Kunden beliefern. Seinen Namen hat bei der Bestellung niemand richtig verstanden, aber er möchte alle zwei Wochen eine Kiste Orangen, also ist er einfach Mister Orange. 

 

Bei der ersten Lieferung an Mr. Orange ist Linus erstaunt über die Freundlichkeit des alten Mannes und über seine Wohnung. Alles ist weiß, hell, einfach, klar strukturiert, sehr luftig und trotzdem kein bisschen leer. An  den Wänden hängen Bilder  in den Farben Rot, Blau, Gelb. Quadrate, Rechtecke, mit schwarzen Linien dazwischen. Linus ist fasziniert: die Bilder scheinen zu schweben. 

Mr. Orange erklärt Linus, das seien die "Farben der Zukunft".

 

Und damit ist eines der Grundthemen des Buches benannt: die Zukunft und ihre Gestaltung.

Bei jedem Besuch kommt dies Thema zur Sprache.

Mr. Orange ist auf der Suche nach einer Malerei, die in die neue Zeit passt, die ihre Strömungen und ihren Rhythmus aufnimmt. In der Musik ist das für ihn der Boogie Woogie mit seinem Gedränge, seinen wechselnden Rhythmen, seiner Gleichzeitigkeit von hell und dunkel, schnell und langsam.

 

Für den erwachsenen Leser ist längst klar, dass Mr. Orange der Maler Piet Mondrian ist, der 1940 ins Exil nach New York ging. Und der diese Stadt über alles liebte.

 

Er hat also den Ozean in die andere Richtung überquert: er flüchtete nach Amerika, Apke fährt nach Europa um dessen Freiheit zu verteidigen.

Auch darüber entwickelt sich ein Gespräch zwischen Linus und Mr. Orange, denn Linus wirft ihm ziemlich direkt vor, kampflos sein Land im Stich gelassen zu haben.

Doch Mr. Orange erklärt ihm, dass es verschiedene Arten des Kampfes gibt: "Malen ist meine Art zu kämpfen."

 

"Jeder kämpft auf seine Art. Dein Bruder ist jung und stark, er kann ihnen mit Muskelkraft zu Leibe rücken. Aber ein alter Mann wie ich?" Er lachte trocken. "Der Feind überrennt mich einfach. .. Ich muss mich mit meiner Vorstellungskraft begnügen."

"Vorstellungskraft?" Das Wort schüttelte Linus. Da war das miese Gefühl auch schon wieder. "Was nutzt einem die Vorstellungskraft im Krieg? Fantasie kann keine Kugeln abhalten. Keine echten Kugeln."

"Ah! ... Täusch dich nicht! Fantasie ist eine mächtige Waffe." Seine Augen funkelten. Er versteht überhaupt nichts davon, dachte Linus. Er saß hier nur, an diesem wundersamen Ort zwischen all seinen Bildern. Während in Europa echte Soldaten echt starben, saß er hier herum ...

"Neue Dinge, die es erst noch nicht gab, aber später schon, und nur, weil jemand sie sich ausdenkt. Alles beginnt mit der Vorstellungskraft: Sie ist der erste Schritt zu allem, was die Menschen je geschaffen haben. ... Wenn Vorstellungskraft so ungefährlich wäre, wie du denkst, dann bräuchten die Nazis nicht so große Angst davor zu haben."

 

Diese Gedanken trägt Linus in sich und er geht damit um. Sie helfen ihm besser zu verstehen, was die Eltern denken, was Apke erlebt und was Verantwortung bedeutet.

 

In einem weiteren Strang der Geschichte spricht Linus immer dann mit Mister Super, wenn ihn etwas sehr beschäftigt und er noch nicht ganz damit zurecht kommt. Er ist auch manchmal wütend auf ihn, denn ihm scheint nun, dass Mister Super den Krieg zu sehr als Abenteuerspiel darstellt, weit weit weg von der Realität. Die Linus aus der heimlichen Lektüre von Apkes Briefen ansatzweise erfährt.

 

Der Roman besteht aus mehreren Ebenen: der Geschichte um Mr. Orange-Mondrian und seinen Bildern, dem Kriegseinsatz Apkes in Europa, die Reflexionen der Zeit in den Superman-Comics (die auch an amerik. Soldaten verteilt wurden) und der persönlichen Entwicklung von Linus. Der natürlich "nebenbei" auch noch ein ganz normales Leben mit Schule und Freunden hat.

 

Der Leser bekommt viele Denkanstöße und er wird sehr vorsichtig an die moderne Malerei herangeführt, weil er zuerst den Maler als Mensch kennenlernt und die Bilder immer in Linus´Wahrnehmung gespiegelt sieht. Und das macht neugierig, wie denn diese Bilder nun tatsächlich aussehen.

 

Natürlich sucht man sofort nach einer Abbildung von "Victory Boogie Woogie", jenem letzten großen Bild Mondrians, das Linus während der Entstehung nur von hinten sah. Und der anfängt im Museum zu tanzen, als er das Bild zum ersten Mal richtig sieht. Es ist so viel Bewegung darin, da kann er nicht einfach so davor stehen...

"Es ist, als würde das Bild eine Tür öffnen, denkt Linus. Als würde es einen hineinziehen, durchschütteln und im hohen Bogen in die Welt zurückschleudern, die plötzlich ein ganz klein wenig anders aussieht."

 

Die erste öffentliche Präsentation dieses Bildes erlebt Mr. Orange-Mondrian nicht mehr, er stirbt im Februar 1944 an einer Lungenentzündung.

Kurz darauf kommt Apke wieder nach Hause, weil er krank ist. Das ist schlimm, aber er hat den Krieg überlebt.

Linus ist gleichzeitig traurig und glücklich. Und definitiv hat er einen großen Schritt in Richtung Zukunft gemacht.

 

 

 

 

Truus Matti: Apfelsinen für Mister Orange

Übersetzt von Verena Kiefer 

Gerstenberg Verlag, 2013, 176 Seiten

Oetinger Taschenbuch, 2015, 176 Seiten

 

 

Bitte beachten Sie auch die Besprechung des Buches

"Krawinkel & Eckstein - Auf den Spuren von Piet Mondrian". Dieses ist eine fantastische Ergänzung zum Jugendroman "Mr. Orange".