Sasha Abramsky -

Das Haus der zwanzigtausend Bücher

Chimen und Miriam Abramsky, Hillway 5, London - hinter dieser schlichten Adresse verbirgt sich einer der intellektuellen Knotenpunkte der Stadt London. Es war ein Haus,

das unglaublich viele Bücher beherbergte, aber auch ein Haus, in dem sich international anerkannte Wissenschaftler versammelten, diskutierten und aßen - zusammen mit Studenten, den Kindern der Familie und vielen weiteren Angehörigen und Bekannten. Ein Haus, in dem jeder willkommen war und bewirtet wurde, in dem die Gastfreundschaft einen hohen Stellenwert hatte.

 

Chimen Abramsky wurde 1916 in Minsk geboren.  Er war der Sohn eines damals schon sehr bekannten Rabbiners, der später zu dem maßgeblichen Rabbiner Englands wurde. Auch mütterlicherseits stammte er von einer langen Reihe Rabbiner ab - eine religiöse "Laufbahn" schien ihm in die Wiege gelegt. Doch obwohl sein Vater zwei Jahre in einem sowjetischen Zwangsarbeitslager verbracht hatte und anschließend nach England ins Exil geschickt wurde - zusammen mit seiner Frau und den beiden jüngeren Kindern, die zwei älteren Söhne wurden als Geiseln in der Sowjetunion zurückgehalten - freundete sich Chimen schon in jungen Jahren mit dem Kommunismus an. Kaum in London angekommen, nahm er Kontakt zu linken Kreisen auf, da war er fünfzehn. 

1936 begann er mit dem Studium von Philosophie und Geschichte an der erst seit gut zehn Jahren bestehenden Universität in Jerusalem, sehr zum Leidwesen des Vaters.

Im Sommer 1939 besuchte er seine Eltern in England, er hatte ein Touristenvisum für vier Monate. Der Ausbruch des Krieges verhinderte eine Rückkehr, Chimens palästinensischer Pass war ungültig, er saß als Staatenloser in England fest, sein Studium konnte er nicht fortsetzen.

 

Er begann bei Shapiro, Valentine & Co., einem angesehenen jüdischen Buchladen im East End, zu arbeiten. Dort lernte er Miriam, von Chimen stets Miri genannt, kennen, die beiden heirateten im Juni 1940.

Miri war seit Mitte der 30er Jahre Mitglied der kommunistischen Partei, Chimen trat dieser erst 1941 bei - zuvor war es Ausländern nicht möglich, Parteimitglied zu werden.

 

Chimen stürzte sich in die Welt des Marxismus und Kommunismus. Er war ein glühender Anhänger der Partei, schrieb für diverse Zeitschriften und Organe, wurde Mitglied der Historikergruppe, und er verteidigte den Stalinismus auch dann noch, als längst bekannt war, was Stalin in der Sowjetunion angerichtet hatte. Erst 1958, zwei Jahre nach Miri, trat er aus der Partei aus.

 

Mit der Aufnahme seiner Arbeit in der Buchhandlung hatte Chimen begonnen, systematisch Bücher zu sammeln.

Nach einigen Jahren verfügte er über die umfangreichste und beste Sammlung kommunistischer und sozialistischer Schriften Englands, wenn nicht Europas. Er war ein geschätzter Sachverständiger, Experte für Sotheby's und wurde auch außerhalb Europas zu Rate gezogen.

 

Nach der Abkehr vom Kommunismus begann er mit der gleichen Leidenschaft Judaica zu sammeln und er erwarb sich auf diesem Gebiet die gleichen Kenntnisse und Fähigkeiten - er war ein lebendes Lexikon auf mehreren Gebieten, Wissenschaftler aus aller Welt holten sich Rat bei ihm und vertrauten auf sein Urteil.

 

Nun ist es nicht so, dass Chimen diese 20000 Bücher lediglich erwarb, um sie zu besitzen. Er studierte sie und nahm ihre Inhalte mit einem blendenden Gedächtnis auf, er wusste mehr als mancher Gelehrte - ohne jemals einen akademischen Abschluss erworben zu haben.

Durch die Fürsprache einiger einflussreicher Wissenschaftler bekam er mit achtundfünfzig Jahren eine Professur für Hebräische und Jüdische Studien am University College London. Dies war die verdiente Anerkennung eines über Jahrzehnte erarbeiteten Wissens, das Chimen nun auch offiziell an Studenten weitergeben konnte.

 

Bemerkenswert neben der Wandlung vom Kommunisten zum Gelehrten der jüdischen Religion und Geschichte ist Chimens Areligiosität. Er war nicht gläubig, ebensowenig wie Miri dies war.

Aber:

"Im Esszimmer fand in jenen ersten Nachkriegsjahren eines der seltsamsten jährlichen Rituale des Hillway statt: das kommunistische Pessachfest. Einige der streitbarsten antireligiösen Denker Londons versammelten sich, um mit nostalgischer Zärtlichkeit die Erlösungsgeschichte feierlich wieder aufleben zu lassen, die in ihrer osteuropäischen orthodoxen Kindheit eine so bedeutende Rolle gespielt hatte."

 

Auch wurden in der Küche stets die jüdischen Speisevorschriften eingehalten. Koschere Zutaten, getrennte Pfannen, Teller, Messer und Gabeln für Milch- und für Fleischspeisen, hier durfte nichts verunreinigt werden.

"In der Küche weigerte sich die Tradition zu sterben, und zwar hartnäckiger als in jedem anderen Zimmer des Hauses."

 

"Mimi und Chimen führten also ein streng koscheres Haus, in dem sie regelmäßig militant nichtreligiöse Tischgäste bewirteten - Beleg für die Widersprüche zwischen dem Persönlichen und dem Politischen, zwischen ihrer jüdischen Identität in kultureller Hinsicht und ihrer Ablehnung der Religion."

 

Auf diesem Spannungsfeld fußt das Buch, das Sasha Abramsky über seine Großeltern geschrieben hat.

Die strikte Ablehnung der Religion mündete bei Chimen und Miri (die Kinder nannten sie Mimi) in einer gläubigen Hingabe an den Kommunismus. Als diese Phase vorüber war, widmete sich Chimen mit religiöser Inbrunst seinen Sammlungen und füllte sein Haus bis in den letzten Winkel mit Büchern.

 

Sasha Abramsky durchwandert dieses Haus Raum für Raum und in seiner Beschreibung dessen, welche Bücher dort aufbewahrt werden, erzählt er die Lebensgeschichte des Großvaters. Und bei weitem nicht nur diese, sondern vielmehr einen Teil der Geschichte des europäischen Judentums und den verschlungenen Weg der Aufklärung, verbunden mit vielen Rückschlägen und Ungereimtheiten.

 

Die einzelnen Räume repräsentieren verschiedene Schwerpunkte.  

So werden im Schlafzimmer vorwiegend kommunistische Werke aufbewahrt, aber auch eine Originalausgabe der "Kunde von Nirgendwo" von William Morris - ein Schatz ohnegleichen.

Im Wohnzimmer haben sich die Philosophie und die Kulturkritik des 18. und 19. Jahrhunderts niedergelassen, ergänzt durch Geschichte und Werken zum Holocaust.

Im Esszimmer findet sich jüdische Geschichte und Werke jüdischer Künstler, die "Kronjuwelen" aber beherbergt das "obere Wohnzimmer." Hier findet sich eine Erstausgabe von Spinoza, außerdem seltene und wertvolle Judaica.

 

"Jahrtausendelang war das jüdische Gemeinschaftsleben um das gesprochene und geschriebene Wort herum organisiert worden. ... In seinem Haus umgaben Chimen Hunderttausende Seiten talmudischer Texte, minutiös begründeter Glaubenssysteme, die das jüdische Leben mindestens seit der Babylonischen Gefangenschaft bestimmt hatten. ... Alles in dieser Weltsicht dreht sich um die Bausteine der geschriebenen Sprache, die Buchstaben, welche die Wörter bilden, welche die Sätze bilden, die letztlich dem Kosmos Leben einhauchen. Diese Poesie, dieses Geheimnis steckt hinter Chimens Besessenheit vom geschriebenen Wort, von der Erbauung des Hauses der Bücher."

 

Abramsky gelingt es vorzüglich, anhand der Räume mit ihren Sammlungsschwerpunkten den (geistigen) Lebensweg des Großvaters und auch der Großmutter nachzuzeichnen. Er selbst begegnete dort berühmten Menschen, diskutierte mit ihnen und lernte sehr früh, "die Vorzüge von Neugier und Wissen zu erkennen." Auch er begab sich auf den Weg, die Welt aus Worten zusammenzusetzen.

 

Die Sammlungen Chimen Abramskys befinden sich heute in verschiedenen Archiven, sie legen Zeugnis ab von einem europäischen Intellektuellen, der viele Enttäuschungen verkraften musste, der aber "die Träume seiner Jugend nie völlig aus seinem Leben" verbannte.

 

Im Jahr 1989 hatte Chimen in einem Brief an Isaiah Berlin geschrieben:

"Wir, Ihre Bewunderer, sehen Sie als einen großen Verfechter der Unabhängigkeit, der Freiheit als eines profunden Wertes an sich, der Freiheit von Ketten, von Inhaftierung, von geistiger und physischer Versklavung durch andere Menschen" - das gilt in gleichem Maß für Chimen Abramsky selbst.

Auch er war ein großer Verfechter der Freiheit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher

Übersetzt von Bernd Rullkötter

dtv, 2015, 408 Seiten

dtv Taschenbuch 2017, 384 Seiten

(Originalausgabe 2014)