Teresa Ciabatti - Die schönen Jahre

Waren "die schönen Jahre", wie man gerne rückblickend die Jugendzeit nennt, wirklich so schön? Waren sie nicht vielmehr geprägt von Zweifeln, Ängsten, Fallen, unstillbaren Sehn-süchten? Haben sich nicht in diesen Jahren Dramen abgespielt, deren Wunden nach Jahrzehnten noch nicht verheilt sind? Von den schwierigen Jahren zwischen Kindheit und Erwachsensein erzählt dieser Roman, der drei Heldinnen hat, aber auch "die Geschichte der Mädchen dieser Generation ist." 

 

Diese Generation sind die Anfang der 1970er Jahre Geborenen. Sie genießen mehr Freiheiten als ihre Mütter, träumen andere Träume, laufen anderen Idealen nach.

 

Die siebzehnjährige Livia verkörpert das Ideal der Schönheit. Sie ist blond, hat eine wunderbare Figur, Männer jeden Alters geraten außer Atem, wenn sie Livia sehen.

Anders ist es bei ihrer nur ein Jahr jüngeren Schwester Federica und deren Freundin. Diese ist ein dickes, blasses Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen, nicht einmal der Wohlstand, in dem die Familie Federicas lebt, wurde ihr gegönnt. Diese namenlose Ich-Erzählerin schildert die Geschehnisse aus ihrer Sicht - aus dem Mauerblümchen wurde eine berühmte Schriftstellerin, ihr Blick auf die achtziger Jahre ist der vorliegende Roman. 

 

Dieser Rückblick wird überblendet von der Gegenwart.

Nach dreißig Jahren, in denen sie nichts voneinander hörten, treffen sich Federica und die Schriftstellerin wieder. 

Mit dieser Begegnung lebt die Vergangenheit auf und die Frage "Hängt es etwa nicht von der Adoleszenz ab, wie du als Erwachsene bist?" steht im Raum. 

 

Der Blick zurück zeigt die Mädchen gemeinsam auf dem Teppich liegend, die Perücken der Mutter ausprobierend.

Sie gehen zur Schule, werden NICHT zu Partys eingeladen, vor allem die Erzählerin ist damit beschäftigt, die täglich erlebten Demütigungen von Klassenkameraden zu verarbeiten. 

Wie ein Stern schwebt Livia über den Mädchen. Sie hat nicht nur jede Menge Verehrer, sie hat schon Sex, möchte Schau-spielerin werden, ein Casting hat sie bereits absolviert.

 

Kurz nach diesem verschwindet sie. Zurück bleibt ein Körper, der auf Hilfe angewiesen ist, denn nach einem Unfall - war es überhaupt ein Unfall? - ist sie durch die erlittenen Hirnver-letzungen massiv eingeschränkt.

Die Eltern versuchen die neue Situation zu ignorieren, bürden Federica ihre Schwester auf. Damit überfordern sie das Mädchen komplett. Ihre frühe Ehe mit Giorgio ist auch eine Flucht aus dem Elternhaus.

 

Dieser eine Moment veränderte das Leben aller. Auch das der Erzählerin. Sie zieht sich zurück, in Wahrheit hat nicht die Zeit die Freundschaft zu Federica geschleift, sondern sie wurde abgebrochen. Warum?

 

Auch darum geht es in dieser Geschichte, die zwei Lebens-alter miteinander verknüpft und fragt, was aus den Jugend-lichen dreißig Jahre später geworden ist. Wie viele der Probleme von damals sind noch immer ungelöst?

 

Der Schriftstellerin wird klar, dass sie ihre Wünsche und Ängste auf ihre Tochter Anita übertragen hat, Anita im Grunde niemals als selbständiges Wesen anerkannte. Nun ist Anita zwanzig und will mit ihrer Mutter nichts mehr zu tun haben. "Die verzweifelte Sehnsucht, bei irgendetwas die Hauptperson zu sein", wie sie am Ende des Romans schreibt, trieb sie, die Mutter und Erzählerin, zu Handlungen und Verhaltensweisen, die die tiefe Verzweiflung dieser Frau offenbaren.

 

Der Roman, der eine bestimmte Generation beleuchtet, eine, die von Berühmtheit und Gesehenwerden träumt, erzählt auch verschiedene Mutter-Tochter-Verhältnisse, er erzählt von weitergegebenen Traumata und er erzählt von der Gewalttätigkeit des Patriarchats und der Klassengesellschaft.

 

Aber auch ganz persönliche Schuld spielt eine wichtige Rolle. Immer wieder kehrt die Erzählerin zu jenem Tag im Oktober 1988 zurück, dem Tag, an dem Livias bisheriges Leben ein Ende nahm. In diesem Ereignis konzentriert sich ihr Charakter, aus ihm folgt ihr weiteres Leben. 

 

Ohne Sentimentalität, sehr klar, schnörkellos und stets auf der Suche nach dem Kern, entwickelt Teresa Ciabatti ihre Figuren, sie hat keine Furcht vor kernigen Aussagen.

Ein auffälliges Merkmal ihres Stils sind in Klammern gesetzte Passagen, die die Erzählerin "hinzugefügte Überle-gungen" nennt und die wichtige Ergänzungen zum Text sind. Außerdem fügt sie Sachtexte ein, die die Schriftstellerin zum Thema Magersucht für eine Zeitung verfasste. Mal spricht sie von sich als "Ich", mal als "Du", immer wieder spricht sie die Leserinnen und Leser direkt an. 

Sie arbeitet mit verschiedenen Stimmen, denn nicht zuletzt versteht sie sich als Stimme ihrer Generation.

 

Als eine solche gilt die 1972 in Orbetello geborene Autorin Teresa Ciabatti. Sie betont an diversen Stellen, eine reale Geschichte zu erzählen, in der Nachbemerkung zum Roman nennt sie sogar die Lebensdaten Federicas. Aber wie real ist die Realität?

"Wir haben uns selbst erfunden, sind Produkte unserer Wünsche und Ängste" - Teresa Ciabatti hat eine lebensechte Geschichte geschrieben, mit unsicheren, unsteten, verletzten und am Ende reifer gewordenen Charakteren, die dem Leben entnommen sind.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Teresa Ciabatti: Die schönen Jahre

Aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim

dtv Hardcover, 2023, 320 Seiten