Vera Brittain - Vermächtnis einer Jugend

Vera Brittain, 1893-1970, ist eine der profiliertesten und berühmtesten englischen Schriftstellerinnen des

20. Jahrhunderts. Bereits ihr erster Roman, The Dark Tide (1923), war ein Erfolg, das 1933 veröffentlichte Testament of Youth wurde ein Best-seller. Das Buch wurde verfilmt -

und nun ist es endlich auch auf Deutsch erschienen, höchste Zeit!

 

Im Vorwort beschreibt Brittain ihre Motivation für die Veröffentlichung ihrer Erinnerungen an die Jahre 1900-1925:

Sie wollte "das Leben eines ganz normalen Menschen im Kontext der zeitgenössischen Geschichte schildern und auf diese Weise zeigen, wie weltweite Ereignisse und Bewegungen das persönliche Schicksal von Männern und Frauen beeinflussen."

 

Was hier so schlicht klingt, ist die Stärke des Buches:

Brittain beschreibt ihre ganz persönliche Geschichte,

die zugleich die einer Generation ist, in deren Jugend oder Schwelle zum Erwachsensein der Krieg fiel.

Und sie beschreibt den Kampf einer Frau um ein selbstbestimmtes Leben.

Ihre persönliche Geschichte ist eng verwoben mit der Frauenbewegung, sie selbst war eine wichtige Fürsprecherin

für die Frauen, und als Rednerin für den Völkerbund auch

für den Frieden. 

 

Sie stammt aus einer wohlhabenden Familie, in der es selbst-verständlich war, dass der Sohn ein Studium absolviert, während "das oberste, unangefochtene Ziel der jungen Frauen und ihrer Mütter die Ehe" war. In Veras Fall war es ausschließlich das Ziel der Mutter, die rebellische Jugendliche hatte ganz andere Pläne: ein Studium in Oxford.

Mit einer unglaublichen Kraftanstrengung gelingt ihr die Aufnahme mit Stipendium ins Somerville-College - ein Triumph sondergleichen. Für Vera, keineswegs für ihre Eltern. 

 

"Besessen von dem Wunsch nach einem ereignisreichen Leben und einem größeren Horizont kam ich nie auf den Gedanken, die Ehe als möglichen Weg in die Freiheit zu sehen."

Für sie ist klar: sie möchte Journalistin und Schriftstellerin werden. "Endgültig zur Frauenrechtlerin" macht sie Olive Schreiners Buch Die Frau und die Arbeit aus dem Jahr 1911.

 

1914, noch zu Friedenszeiten, nimmt sie ihr Studium auf. 

In Oxford lernt sie einen Freund ihres älteren Bruders Edward kennen und verliebt sich in diesen intelligenten und gut aussehenden jungen Mann von neunzehn Jahren.

Roland Leighton, dessen Eltern beide Schriftsteller sind, bezeichnet sich selbst als Feminist. Undenkbar, dass er von Vera verlangen würde, ihre Ausbildung abzubrechen, als die beiden ein Paar werden.

 

Erstaunlich ist, dass sowohl Edward, als auch Roland, sowie weitere enge Freunde aus Oxford, sehr schnell "nicht nur willens" sind, sondern "begierig darauf, ihr Leben einzusetzen" - sie melden sich sofort für den Kriegsdienst. Und können es gar nicht erwarten, an die Front geschickt zu werden.

 

Roland schreibt vom "abgeschiedenen Leben blutleerer Gelehrsamkeit", von der Faszination des Krieges, seiner "elementaren Realität jenseits des emotionslosen Theoretisierens." Roland ist der Kriegspropaganda, dem Heldengedanken, der Sehnsucht nach Bewährung im Ausnahmezustand verfallen, wie so viele seiner Generation.

 

Und Vera? Sie fühlt sich ebenso abgeschnitten von der Realität, will Rolands Schicksal teilen, will ebenfalls ihre Pflicht erfüllen. Und meldet sich 1915 als freiwillige Kranken-schwester. Vier Jahre lang, bis zum Ende des Krieges, arbeitet sie in verschiedenen Hospitälern und Krankenlagern.

In Devon, London, später auf Malta, dann an der Westfront, in dem riesigen Lazarett Étaples, in dem von ihr auch deutsche Kriegsgefangene gepflegt werden.

 

Die Arbeit als Schwester verlangt ihr alles ab.

Totale Erschöpfung, sowohl körperlich wie geistig, hält sie aber nicht davon ab, sie immer wieder zu verpflichten.

Es ist für sie ausgeschlossen, während des Krieges nach Oxford zurückzugehen.

Auch dann nicht, als sie an Weihnachten 1915 die Nachricht erhält, dass Roland in Frankreich gefallen ist. Sie hatte in England auf ihn gewartet, beide hatten Urlaub bekommen.

 

Diesem immensen Verlust werden weitere folgen.

Enge Freunde, für Vera jedoch wirklich verheerend ist der Tod ihres Bruders Edward kurz vor Kriegsende in den Italienischen Alpen. Mit ihm verliert sie ihren tiefsten Vertrauten, mit diesem Verlust geht eine Welt unter.

 

Immer drängender wird die Frage: Wofür? Wofür diese Verschwendung an Leben?

Schon lange ist Vera klar, dass es im Krieg nur Verlierer gibt, auch wenn am Ende einige Staaten als Sieger gezeichnet werden. Ihre Verluste sind ebenfalls riesig, das Zivilleben zerstört.

 

Nach ihrer Rückkehr nach Oxford kann Vera dort zunächst kaum Fuß fassen. Zu weit liegen die Erfahrungen von ihr und ihren Kommilitoninnen auseinander. Vera hat das Gefühl, ihr Leben hinter sich zu haben. Der Krieg hat es zumindest entzwei geschnitten in ein davor und danach.

 

Doch sie findet zurück in die eiserne geistige Disziplin, mit der sie sich schon vor Jahren auf die Aufnahme ins College vorbereitet hatte. Sie schließt sich diversen Zirkeln an, begeistert sich für die Idee des Völkerbundes und wird zu einer unermüdlichen Verfechterin des Internationalismus.

 

Sie befreundet sich mit Winifred Holtby an, einer jungen Frau, die ebenfalls Krankenschwester war und nun wieder studiert. Die beiden Frauen ziehen zusammen, bestreiten ihren Lebensunterhalt mit Unterrichten, Vorträgen und Schreiben.

 

Zum ersten Mal in ihrem Leben genießt Vera den "Luxus einer Privatsphäre", der manche Unbequemlichkeit ausgleicht. Vor allem aber: die beiden Frauen verdienen ihr eigenes Geld! Und beide arbeiten sich langsam aber sicher in die Redaktionen wichtiger Zeitungen vor, veröffentlichen Essays und Romane.

Sie unternehmen viele Reisen zusammen: private, zu den Gräbern von Roland und Edward, offizielle als Korrespon-dentinnen bei den Versammlungen des Völkerbundes, den eigenen Horizont erweiternde durch Mitteleuropa, um sich selbst ein Bild des geschundenen Kontinents zu machen.

 

Immer eindringlicher wird dabei das Anliegen der politisch denkenden Romanautorin Vera Brittain: nur durch eine konsequente Sozialpolitik, die Armut nicht als Naturgesetz sieht, nur durch eine Politik, die die "Frauenfrage" als eine Frage der Menschenrechte und nicht die einer zweitklassigen Minderheit sieht, nur durch die Beseitigung der riesigen Unterschiede zwischen Arm und Reich zumindest in Europa, nur durch Verständigung und niemals durch Militarismus kann die Welt weiteren Katastrophen wie dem "Großen Krieg" entgehen. 

 

Als sie 1944 die Bombardierung deutscher Städte "unmenschlich" nennt, wird sie enorm angefeindet.

Letztlich zeigt sie damit ihren Pazifismus, der über jeder patriotischen Romantik steht, und den sie konsequent verfolgt. 

1947 sagt sie in einem Spiegel-Interview:

"Wir leben in Europa alle in dem gleichen Boot, jeder von uns muss helfen, dass das Boot nicht sinkt." (Der Spiegel, Nr. 31)

Denkwürdige Worte, gerade heute.

 

Auch heute noch modern und bedenkenswert sind Vera Brittains Versuche, ihre Ehe, die sie 1925 mit dem Politologen George Catlin schließt, so zu gestalten, dass sie ihre Grund-sätze bezüglich Berufstätigkeit und eigenem Einkommen nicht aufgeben muss. 

Ihr "Vermächtnis einer Jugend" endet mit der Hochzeit der über Dreißigjährigen, die auch das Ende einer Zeit markiert, die von 1914-1924 dauerte. Jener Zeit die "endgültig bewiesen hatte, dass internationale Konflikte in einer Welt, in der Nationen voneinander abhängig sind, ausnahmslos zu Zerstörung und Untergang führen."

 

Die Autobiographie, die so überaus genau die Erfahrungen, Erlebnisse, Gefühle und Gedanken einer Frau im Krieg beschreibt, stützt sich auf Tagebücher, Briefe (von Vera geschriebene, sowie erhaltene) und Gedichte, die sie den Kapiteln voranstellt, oder die an der entsprechenden Stelle im Text zitiert werden. 

 

Ich bin auf ganz viele Aspekte des Buches nicht oder nur sehr knapp eingegangen, beispielsweise den Konflikt zwischen den Pflichten einer Tochter und eigenen geistigen Interessen, ich habe relativ wenig zitiert, obwohl auf fast jeder Seite des mehr als 500 Seiten umfassenden Buches ein Satz zu lesen ist, der bündig einen Gedanken oder Sachverhalt fasst.

 

Auf jeden Fall ist Vera Brittain der Anspruch, ein individu-elles Leben im historischen Zusammenhang darzustellen, vortrefflich gelungen. Ihr Buch ist ein so eindrückliches und einprägsames Zeugnis von Frauen und Männern im Krieg (der nicht mit einem Vertrag endet), wie es selten zu lesen ist. Sie rückt all das, was Krieg für das eigene Leben bedeutet sehr nah und spricht damit eine deutliche Warnung aus.

 

"Vermutlich konnten wir Übriggebliebenen nichts anderes tun, als uns gegen das Vergessen zu wehren und unsere Erinnerungen an die nachfolgende Generation in der Hoffnung weiterzugeben, dass es ihnen, wenn ihre Zeit kommt, besser gelingen möge als dieser bankrotten, zu Grunde gerichteten Generation, die Welt zu verändern. Wenn sie nur den Idealismus, der bei uns auf Zerstörung gelenkt worden war, auf das Erschaffen richten, die Courage, die wir dem Krieg widmeten, für den Frieden nutzen würden, würde die Zukunft vielleicht wirklich die Erlösung der Menschheit erleben und nicht deren Abstieg ins Chaos."

 

 

Dieser fünfundachtzig !! Jahre alte Text ist weder angestaubt - was auch der trefflichen Übersetzung zu danken ist - noch sind die Ermahnungen hinfällig.

Vieles hat sich verändert, beispielsweise sind gleiche Universitätsabschlüsse für Männer und Frauen sind längst kein Thema mehr, doch sehr sehr Vieles ist noch zu tun. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vera Brittain: Vermächtnis einer Jugend

Übersetzt von Ebba D. Drolshagen

Matthes & Seitz, 2018, 528 Seiten

(Originalausgabe 1933)