Frédéric Brun - Perla

"Es ist kein Roman, kein Tagebuch, keine Autofiktion. Was ist es aber dann? Mein Ich ist ein Schatten. Die Literatur ist das Porträt eines Schattens."

Der Ich-Erzähler begibt sich auf  die Suche - nach seiner Mutter, nachdem sie gestorben ist. Dieser Suche eingeschrieben ist sein Nachdenken über sich selbst, vor allem über die Frage: wie viel von den Erlebnissen der Mutter lebt in ihm weiter, wie viel davon wird er seinem Sohn übertragen?

 

Perla wurde am 31. Juli 1944 nach Auschwitz deportiert, sieben Monate verbrachte sie dort. Dass sie nicht ins Gas geschickt wurde, verdankte sie ihrer Schönheit, Mengele "wies mit dem Finger nach links", das bedeutete Leben.

"Sie wurde zum Versuchskaninchen für seine Abartigkeiten. Sie hat durchgehalten. Sie hat sich auf eine Leichenbahre gelegt, um schneller nach Hause zu kommen. Und dann war sie wieder da. Sie hat geschwiegen, und ich wollte es nicht wissen."

 

Sie ging zurück nach Paris, baute sich ein neues Leben auf.

Mitte der fünfziger Jahre lernte sie André kennen, die beiden heirateten, bekamen einen Sohn.

Die Traurigkeit blieb, mehr als fünfzig Jahre litt Perla an Depressionen, niemand konnte ihr helfen.

 

Perla schwieg, ihren Sohn ermunterte sie nie, nachzufragen. Nun, nach ihrem Tod, drängen die Fragen auf ihn ein.

Er liest Bücher über den Holocaust, er fährt nach Auschwitz - einige Fotos, die der Autor aufgenommen hat, sind im Buch abgedruckt - er arbeitet sich hinein in die verschwiegene Geschichte.

 

Warum jetzt? Vielleicht, weil er Vater wird? Damit erhält

die Zukunft ein anderes Gewicht, er muss sich aus der Vergangenheit lösten, sie ablegen.

 

"Auch ich will meine vergebliche Suche nach Wahrheit einstellen. Perla hat letztlich Recht darin behalten, mich schützen zu wollen, mir nur weniges zu erzählen. Unnötig, dem Horror noch ein weiteres Ungemach hinzuzufügen, schicksalhafte Geschichten als Geschichte uns mitzuteilen, die mich nur krank machen würden. Ich werde die Zeit nicht mehr zurückverfolgen. Ein jeder sollte selbst lernen, die Vergangenheit zu bewältigen."

 

Diese Erkenntnis steht (fast) am Ende des Buches, um sie zu gewinnen, war dieses jedoch notwendig. Nun kann er sich an die Mutter als die Frau, die sich stets um ihn sorgte, erinnern, muss sich nicht mehr vorstellen, was ihr in Auschwitz alles widerfuhr.

 

Parallel zu dieser persönlichen Geschichte der Mutter stellt sich Frédéric Brun eins ums andere Mal die Frage, wie es in Deutschland, dem Land der Klassiker und Romantiker - besonders letztere liebt er sehr - zu dieser Barbarei kommen konnte. 

 

"Wie konnte die Menschheit Auschwitz und Novalis hervor-bringen? Ganz gleich, wie ich diese Frage hin und her wälze, ich finde keine Antwort."

 

Den Fotos aus Auschwitz werden Abbildungen von Gemälden Caspar David Friedrichs, Porträts Hölderlins und Novalis´ gegenübergestellt - zwei Gesichter Deutschlands.

Er lässt sich nicht lösen, dieser Widerspruch - 

"Wir sind so beschaffen, dass wir mit Widersprüchen, unseren Widersprüchen, konfrontiert werden."

 

Die Einbettung in diesen geistesgeschichtlichen Zusammen-hang macht die vorsichtige und berührende Suche zu einer eindrucksvollen Lektüre. Sie stellt mehr Fragen als sie beantworten kann. Sie zeigt die Grenzen der Lösbarkeit auf, vereinfacht nicht, um Widersprüche zu tilgen.

 

 

 

Frédéric Brun, geboren 1960, erhielt für diesen Roman den Prix Goncourt du premier roman im Erscheinungsjahr 2007, Christine Cavalli hat ihn trefflich ins Deutsche übertragen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frédéric Brun: Perla

Übersetzt von Christine Cavalli

Faber & Faber, 2020, 128 Seiten

(Originalausgabe 2007)