Máirtín Ó Cadhain - Grabgeflüster

Dieser Roman erschien 1949 auf Irisch.

Er wurde zum Kultbuch des gälischen Irland, die erste Übersetzung ins Englische erschien 2015. Der Autor gilt als der irischsprachige Joyce und ist seinerseits ein Mythos. Geboren wird er 1906, als eines von 13 Kindern eines Bauern-ehepaares. Er wird Lehrer, später Übersetzer, er engagiert sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung und ist politisch aktiv. Für seine Überzeugungen sitzt er lange Zeit in einem Internierungslager.

Er schreibt Kurzgeschichten, den vorliegenden Roman,

wird Inhaber des Irisch-Lehrstuhls im Trinity College und hört ein Leben lang nicht auf, sich für die Irische Sprache und Kultur einzusetzen. Cadhain stirbt im Jahr 1970.

 

Der Hintergrund der irischen Geschichte, mit all den Bemühungen und Kämpfen um Eigenständigkeit und um die Bewahrung der Kultur, wird sehr gut in den Anmerkungen erklärt, die der Verlag hinzugefügt hat. Ergänzt werden diese durch eine Zeittafel, die ebenfalls weiterhilft, wenn das Vorwissen nicht speziell genug ist, um bestimmte Punkte aus dem Text heraus zu verstehen.

 

Der Roman besteht aus zehn Kapiteln, die hier Zwischenruf heißen. Den Auftakt bildet "Die schwarze Erde", das letzte trägt die Überschrift "Die weiße Erde."

Dazwischen reihen sich "Die Erde wird verteilt", "Die Erde wird aufgebrochen", "Die Erde wird zerstossen", "Die Erde wird mit Knochen gedüngt", "Die Erde wird geknetet",

"Die Erde wird geformt", "Die Erde wird gebrannt",

"Die Erde wird eingeebnet."

 

In der Erde findet der komplette Roman statt.

Er verfügt über keine Handlung, er besteht aus Dialogen und Monologen. Aus Streitereien, Eifersüchteleien, aus Kampf um die Meinungshoheit, aus Klagen und Anklagen, aus Vorwürfen und Verleumdungen, aus alten und neuen Lügen, aus dem ganzen Unrat der Menschheit.

 

Protagonistin ist die kürzlich verstorbene Caitriona, die

zum Zeitpunkt ihres Todes einundsiebzig ist. Sie hat zwei Schwestern: Baba, dreiundsiebzig (sie lebt in Amerika) und Neil, neunundsechzig, Caitrionas Nachbarin.

Und Herzensfeindin.

 

Sie leben in einem kleinen Dorf. Die Armut ist ziemlich gleichmäßig verteilt, der Besitz besteht aus einem Häuschen, ein paar Tieren, einem kleinen Stück Land, das nicht viel abwirft.

Die Schwestern haben einen Vetter namens Tomas im Haus. Dieser hat keine Nachkommen, aber ein Grundstück. 

Um dieses streiten sich Caitriona und Neil. Beide versuchen sich ins Herz des einsamen Mannes zu schmeicheln, um in seinem Testament bedacht bzw. Alleinerbe zu werden.

Beide Schwestern haben nur noch einen Sohn.

Caitrionas Padraig hat in ihren Augen die falsche Frau geheiratet. Mit der Mutter ihrer Schwiegertochter liegt Caitriona auch im Grab im Dauerklinsch.

Neil hatte mehr Glück mit ihrer Schwiegertochter, sie ist fleißig und hatte eine akzeptable Mitgift.

 

Von all dem erfährt der Leser durch die Gespräche auf dem Friedhof. Die Toten hören nicht auf zu reden, es geht zu wie in einem Bienenstock mit diversen Anwärterinnen auf die Rolle der Königin.

 

Die größte Sorge der Caitriona ist im Moment eine schöne Beerdigung mit erklecklicher Kollekte gehabt zu haben (das zeugt von Beliebtheit) und ein Grabkreuz aus "Kalkstein von den Inseln" zu bekommen. Das ist teuer und zeugt von Status.

Außerdem möchte sie gerne in der Pfund-Abteilung liegen, und nicht in der Fünfzehn-Schilling-Abteilung.

 

Das grundsätzliche Problem ist jedoch ein anderes:

"Lebe ich oder bin ich tot? Und die anderen hier, leben die oder sind sie tot? Die keifen genauso herum wie früher über der Erde. Ich dachte immer, wenn ich erst im Grab liege, befreit von Arbeit und häuslichen Sorgen und allen anderen Kümmernissen, werde ich endlich Ruhe finden ... Aber was soll dieser Unfrieden hier in der Friedhofserde? ....

Das Leben hier ist dasselbe, Caitriona, wie in der Alten Heimat, nur sehen wir eben nur das Grab, in dem wir liegen, und können unseren Sarg nicht verlassen."

 

Man fühlt sich erinnert an Sartres Aussage aus dem Stück "Geschlossene Gesellschaft" von 1944:

"Die Hölle, das sind die anderen." 

 

Von diesem Friedhof hier gibt es kein Entrinnen.

Die Stimmen summen durch den Tag und die Nacht, sie erzählen von der Erde und gestalten damit ein Bild vom Leben in einem armen Land.

Hier gedeihen weder Mitgefühl noch Solidarität. Es wird um das kleinste Bisschen gezankt, ein jeder kämpft für sich und seine Familie und gönnt dem Nachbarn nicht dem Mist hinterm Haus. Ja, auch der wird mitunter gestohlen.

 

 

Die Zwischenrufe 3-8 werden eröffnet von einer sehr poetischen Stimme, die sich das "Schallhorn des Friedhofs" nennt. 

"Ich bin das Schallhorn des Friedhofs. Hört auf meine Stimme! Sie muss gehört werden..."

Diese Stimme kündet von der Zeit und dem Leben,

den Versprechungen und Träumen, der Trauer und der Menscheneitelkeit, sie erzählt von den "Wiesen der Tränen."

 

Diese Stimme ist in Rhythmus und Melodie, in Wortwahl und Universalität weit entfernt von dem, was die Menschen von sich geben.

Sie unterbricht jenen stream of consciousness, für den

Joyce berühmt ist, und den Cadhain ebenso meisterhaft beherrscht.

 

Eine Leseprobe aus dem Eingang des Kapitels  

"Die Erde wird mit Knochen gedüngt":

 

"Hier auf dem Friedhof befindet sich das Weberschiffchen in immerwährender Bewegung. Es webt Schwarz über Weiß, Missgestalt über Schönheit, ...

Denn das Material dieses Webers ist die glatte, fügsame Erde. Sein Webstuhl ist der verwitterte Schutt, aus dem die Träume des einen erwachsen waren, der seinen Wagen an den hellsten Stern am Himmel angeschirrt oder der in der tiefsten Finsternis eine Dolde von der verbotensten Frucht gepflückt hatte. Angst aus Träumen, das lautere Strahlen unerreichbarer Schönheit, die Sehnsucht gequälter Begierde, das sind die üblichen Walkwasser dieses uralten Meisters der Webkunst."

 

 

Man muss sich hineinlesen in diesen Text, sich auf die Stimmen einlassen, herausfinden, wer spricht (oder auch dies beiseite lassen, denn manchmal ist es nicht wichtig).

Die Entführung des Lesers in die Unterwelt geschieht mit einer fesselnden Sprache, die sehr vielfältig ist und oft überrascht. 

Das Buch ist keine lässige Liegestuhl-Lektüre.

Es fordert Aufmerksamkeit und belohnt mit Einzigartigkeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Máirtín Ó Cadhain: Grabgeflüster

Übersetzt von Gabriele Haefs

Alfred Kröner Verlag, 2017,  461 Seiten

(Originalausgabe 1949)