Jan Kjaerstad - Der König von Europa

Null Uhr null zu Beginn des Jahres 2000.  Alf I. Veber beginnt den Jahrtausendwechsel alleine in den norwegischen Bergen, schwebend zwischen den Erinnerungen an ein Ereignis, das vor 25 Jahren stattfand und der Zukunft. Diese liegt völlig unklar vor ihm. Der Sechsundvierzig-jährige hatte Jahrzehnte versucht ein Kulturbringer zu sein, nun gibt er auf. Vorläufig.

 

Am ersten Tag des neuen Jahres verkauft er all seine Aktien, erwirbt "zweihundert Serien des Lexikons Store Norske", um diese zu verschenken. An Einwanderer, Frauen vor allem, um diese am Wissen, an der Aufklärung, teilhaben zu lassen.

Die Bücher, die keinen Abnehmer gefunden hatten, schichtet er zu einem Tor auf und zündet dieses an.

 

"Die gegenwärtige Aufklärung leistete in der Regel nichts. Vollkommen ungefährlich. Eine Million Fakten, keine Weisheit." Er springt durch das Inferno - und ist ein anderer. Auch wenn er den alten Alf noch in sich trägt.

 

Er beschließt nach London zu reisen und Anna zu suchen. Jene Frau, die ihn vor 25 Jahren auf den Bergen geküsst hatte und die er meint,  nun als Partnerin zu benötigen.

Für das Aufklärungsprojekt.

 

So dramatisch beginnt der Roman, der in Oslo und in London spielt. Ausgehend von der Gegenwart begibt sich der Erzähler zurück in Alfs Kindheit. Berichtet von der Familie, der Mutter, die bei einem Verlag arbeitete, den Ruf einer großen Literaturkennerin hatte, obwohl sie niemals ein Buch las. Dafür ständig einen Schlager vor sich hinsang.

Der Vater, ein Chemiker, suchte nach einem Kontrastmittel, um das Gehirn röntgen zu können - er war immer auf der Suche nach den Strukturen, dem Dahinter - und Darunter-liegenden.

 

Beide haben Alf beeinflusst: die Musik spielt zeitlebens eine bedeutsame Rolle für ihn, ebenso die Suche nach Mustern.

 

Einige Personen sind enorm wichtig für Alfs Entwicklung:

die sieben Jahre ältere Vera, eine Art Kindermädchen aus der Nachbarschaft. Sie strickt unglaublich fantasievolle Muster, zeichnet und zeigt ihm die Geheimnisse der Natur.

Ihr Verlust erschüttert ihn im Allerinnersten. Er bleibt ihr dadurch verbunden, dass er ihre Ideen aufnimmt und sie weiterspinnt.

 

Schon als Kind lernt er Johanne kennen, ein ungewöhnliches Mädchen aus außergewöhnlichem Haus mit widerspenstigen roten Locken (schon immer Kennzeichen derer, die anders sind). Sie entfacht ihn ihm die Liebe zu den Sternen, sie führt ihn ein in die Geheimnisse des Universums, sie beschützt ihn, die beiden bauen zusammen ein Baumhaus, das einer Welt gleicht - Alf dürfte kaum jemanden so viel zu verdanken haben wie Johanne. 

 

Als Studenten gehören sie beide dem Diskussionszirkel Akbars Hof an, einer Gruppe von fünf jungen Leuten, die Norwegen öffnen, erneuern, europäisieren wollen.

Die beiden werden nie ein Paar, sie verlieren sich sogar völlig aus den Augen, aber Johanne ist in Alf verankert wie der Hohlraum, den die durch einen Unfall verlorene Milz in ihm hinterlassen hat, und der ebenfalls große Bedeutung für ihn hat. 

 

Seine sexuelle Erweckung erlebt Alf mit Isabell, lernt dabei gleichzeitig, dass Erotik alleine nicht reicht, um eine Beziehung zu führen.

Heiraten wird er Charlotte, sie hinterlässt die geringsten Spuren in ihm.

 

In London lernt er Io kennen, Iris Vaugh. Die Begegnung mit Anna endete in einer totalen Enttäuschung. Sie hat in seinen Augen alles verraten, wofür Akbars Hof einmal stand.

Io hingegen ist auf eine bestimmte Weise die Synthese all der Frauen, die er geliebt hat, bzw. die ihn voran gebracht haben. Sie ist halb so alt wie er, scheinbar einfach gestrickt, er glaubt es kaum, dass sie wirklich Geschichte studiert, als sie ihm dies erzählt. Er begehrt sie schmerzhaft, weiß, dass er sich von ihr fernhalten muss, hat Angst, sie zu zerstören.

 

Der aus fünf Teilen bestehende Roman erzählt von der Kind-heit ausgehend die Entwicklung des Protagonisten, jeweils mit einem Schwerpunkt und vielen Blenden in eine andere Zeit. Also nicht chronologisch, sondern in Kreisen, in Netzen. 

 

Die Begriffe  "Netz" und "Muster" liegen unter dem ganzen Roman. Angefangen von dem Netz, das Johanne aus Seilen geknüpft hatte, über das Netzwerk an Ideen, die Alf  während seines Studium der Ideengeschichte zu ergründen versuchte (und ein erfolgloses Buch über das Barock schrieb), über den Versuch, Wissen miteinander zu vernetzen, indem er bei seiner Mitarbeit am Store Norske überall Querverweise anlegte (bis es dem Redaktionsleiter zu viel wurde, weil Alf zu weiträumig dachte), bis hin zum Internet - hier war Alf ein Pionier, damit hat er Millionen verdient. Wichtig auch für seine Entwicklung: das Bodenmuster der Markuskirche in Venedig, um nur eines zu nennen.

 

"Bruchstücke des Wissens fanden ihre wahren Bedeutungen erst, wenn sie in etwas Ganzes eingefügt wurden, zusammenwirken können. Wie Edelsteine in eine Krone eingefasst."

 

In ganz einfache Worte gefasst:

"Was werden wir mit all dem Wissen anstellen? Ein gebrech-liches Fahrzeug bauen. Es zu einer Rettungsflotte zusammen fantasieren. So einfach. So unmöglich. So lebensnotwendig.

Die Gedanken spannen sich weiter. Ein Werk, geprägt von Offenheit. Genau. Ideen, die nicht zuallererst in sich selbst bedeutungsvoll waren, sondern die durch das Netzwerk, das sie schufen, Bedeutung gewannen. Die also nicht nur auf das Vernünftige abzielten, sondern die einem auch halfen, die entscheidende irrationale Wahl zu treffen."

 

Alfs Idee ist es, die Aufklärung und das Barock zu versöhnen. Wissen zu vernetzen, Qualität statt Quantität zu schaffen, die Vergangenheit in die Gegenwart zu integrieren um sie damit für die Zukunft zu öffnen. 

Einst zeichnete er Karten, suchte nach dem unbekannten Norwegen, erforschte Höhlen - immer ist dies alles auch symbolisch zu sehen, über den realen Akt hinausgehend und hinausweisend. 

 

Die Frage, "Was stellen wir mit all unserem Wissen an?" taucht mehrmals auf. Ebenso der Begriff "Schlüsseldinge",

er hat fünf "Portalerlebnisse", sammelt abseitiges Wissen,

das erst durch Vernetzung Bedeutung erhält.

 

Jan Kjaerstad schafft es, einen ungemein spannenden Roman aus all diesen Fäden zu weben - das Weben hat ebenfalls mehrere Bedeutungsebenen, ist es doch das Schaffen eines Ganzen aus vielen einzelnen Teilen par excellence.

Wie Meteorsteine eingearbeitet sind Passagen, kursiv gedruckt, die den Notizheften Alfs entstammen. 

Einen solchen Stein bekam er einst von Johanne geschenkt (nebst einem Navigationsinstrument) - der Autor verwebt und verzahnt, verknotet die Fäden zu Netzen, er vollzieht in der Art seines Schreibens das nach, wovon er schreibt.

Eine hohe Kunst.

 

Die Frauenfiguren sind plastisch, eindringlich und individu-ell gezeichnet, sie bringen jeweils eine andere Saite in Alf zum Klingen, tragen ihre Tonlage bei zum Sound seines Lebens. 

 

Entscheidend sind aber auch Merlin, Mitglied von Akbars Hof und Geschäftspartner, der Antiquar Graham und Ian,

ein Mann, den Alf in London kennen lernt und der zu einer entscheidenden Wendung in seinem Leben beiträgt.

Immer wieder trifft Alf bei seinen Streifzügen durch den Großstadtdschungel und auf der Suche nach Muster im Chaos London auf diesen Mann, der sein Leben damit verbringt, ein einziges Gemälde verstehen zu wollen.

 

Die verschlungene Geschichte um Alf endet offen.

Mit einer Reise von London auf den Kontinent. Nach Europa.

 

Der Titel des Romans "Der König von Europa" ist ebenfalls ein Gedanke, der sich durchzieht - damit wird die Idee von Offenheit und Vernetzung betont, keinesfalls die Monarchie. Denn Europa ist nicht nur ein Kontinent, eine politisch-kulturelle Idee, es ist auch ein Mond des Jupiter.

Und Europa ein "neuer Planet", den Alf  "erschaffen" will.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jan Kjaerstad: Der König von Europa

Übersetzt von Alexander Riha

Septime Verlag, 2016, 688 Seiten

(Originalausgabe 2005)