Christoph Poschenrieder - Mauersegler

Wissen Sie was ein "Totmannknopf" ist?

Das ist ein Knopf, auf den ein Lokomotivführer alle paar Sekunden drücken muss, damit klar ist, dass er noch da ist und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Drückt er nicht mehr, ertönt ein Warnsignal. Hat er nur geträumt, drückt er dann und alles ist gut.

Drückt er dann immer noch nicht, wird automatisch eine Vollbremsung eingeleitet.

 

Dieses Instrument des Totmannknopfs ist die Erweiterung des sogenannten "Todesengel-Programms", das Ernst, der Programmierer und Computerexperte, entwickelt hat.

 

Doch zuerst einmal soll vom Leben die Rede sein.

Fünf Herren, die den Zenit ihres Lebens deutlich überschritten haben, tun sich zusammen und ziehen gemeinsam in eine Villa am Starnberger See.

Sie kommen alle aus derselben Kleinstadt, saßen zusammen in einer Klasse, bildeten eine Jungsbande. Ihr berufliches Leben verstreute sie in alle Welt, aber einmal im Jahr treffen sie sich, um dem kleinen Martin zu gedenken.

Martin war der sechste der Bande, als Kind brach er in einen Weiher ein und ertrank. Für dieses Unglück fühlt sich die ganze Gruppe verantwortlich, denn Marin war einer, der selten etwas aus eigenem Antrieb tat. Jemand muss zu ihm gesagt haben, er solle die Abkürzung über den See nehmen, obwohl schon Tauwetter eingesetzt hatte.

 

Alle fünf haben Karriere gemacht: Wilhelm ist Versicherungsjurist, er sitzt in der ganz oberen Etage, Heinrich, der Lebensmitteltechnologe entwickelte Produkte, die in aller Munde sind, Siegfried ist ein Intendant, der alle großen Bühnen bespielt hat, Ernst, wie schon erwähnt Programmierer und Eigentümer eines millionenschweren Software-Unternehmens. Für alle spielt Geld keine Rolle. Etwas bescheidener lebt Carl, ein Journalist, der mittlerweile einen eher symbolischen Posten in einem Verlag bekleidet: er erzählt die Geschichte aus seiner Perspektive.

 

Alle sind mindestens einmal geschieden, der Kontakt zu den Kindern ist mehr oder weniger abgebrochen und jeder fragt sich, wie er die letzte Etappe bewältigen möchte.

Eines ist klar: sie soll selbstbestimmt sein (was kein Altersheim gewährleistet, auch dann nicht, wenn es Seniorenresidenz heißt) und das Ende nicht in jahrelangem Dahinscheiden bestehen. 

 

Deshalb entwickelt Ernst das Todesengel-Programm.

Jeder muss täglich auf den Totmannknopf (= das Lebenszeichen) drücken, es leuchtet eine Lampe. Leuchtet diese nicht mehr, setzt sich ein Programm selbständig in Gang und schickt demjenigen, den der Lebensmüde bestimmt hat, eine e-mail.  Dieser ist dazu verpflichtet, diesen Willen zu respektieren und seinem Freund aus dem Leben zu helfen.

Der Hausarzt ist eingeweiht, er wird keine Schwierigkeiten machen.

 

Bis es das erste Mal so weit ist, leben die Herren aber noch geraume Zeit zusammen. Die Sitzordnung aus der Schule hat sich erhalten, sie begehen gemeinsame Unternehmungen, sind aufgrund ihrer außergewöhnlichen Lebensweise Gegenstand von Homestories in Klatschblättern, jeder geht einem eigenen Hobby nach, manch einer verändert sich noch einmal sehr. Die Grundüberzeugung bleibt jedoch bestehen und so fällt es eines Tages Carl zu, Wilhelms Leben zu beenden. Carl ist auch derjenige, der als Letzter übrig bleibt und die Sache selbst zu Ende bringen muss.

Er lebt aber nicht alleine in der großen Villa: die sehr patente und mit eigenen Ideen ausgestattete Pflegerin Katarina aus Kirgisien hat sie in ein Waisenhaus umfunktioniert, das Haus wurde ihr per Schenkung überlassen.

 

Der Roman spielt eine Möglichkeit durch, sich dem Ende zu stellen. Die gewagte Aussage, "Wenn es soweit ist, jag´ ich mir eine Kugel in den Kopf", machen viele Menschen irgendwann einmal, kaum einer tut es. Vielleicht nicht, weil man nicht mehr will, sondern weil man nicht mehr kann.

Die Alten-WG ist ein Experiment, das den Zweck hat, das Leben so lange es geht zu genießen - das tun die fünf Männer nach Kräften - mit der Gewissheit, finale Hilfe zu bekommen. Und zwar von Freunden, denen man ein Leben lang vertraut hat.

 

Der Ton des Romans ist keineswegs niederschmetternd, im Gegenteil: es wird nicht Sterbehilfe verhandelt, es geht um das Zusammenleben.

Poschenrieder stellt sich vor, wie so ein Experiment ablaufen könnte und er lässt es seinem Erzähler Carl nicht an Einfühlungsvermögen und auch nicht an Ironie mangeln.

Konsequent hält sich jeder an die Vereinbarungen, auch Carls Gewissensbisse werden nicht verschwiegen.

Mit dem Lichtblick Katarina und ihrer grandiosen Idee, die die Villa und die Männer bis zuletzt noch einmal mit Leben erfüllt, bricht er den engen Kreis der alten Freunde auf.

Sie lassen sich auf ein weiteres Experiment ein, und auch das gelingt.

Vielleicht ist das das Geheimnis: Bereitschaft und Mut zur Veränderung.

 

 

 

 

 

 

 

Christoph Poschenrieder: Mauersegler

Diogenes Verlag, 2015, 224 Seiten

Diogenes Taschenbuch, 2017, 224 Seiten