Selene Mariani - Ellis

Dieser Debütroman der 1994 in Verona geborenen Autorin besticht durch seine Verknappungen und Auslassungen.

Selene Mariani versteht es, sehr viel zu sagen - in Form von Andeutungen, manchmal auch Schweigen.

Sie entfaltet das Porträt ihrer Protago-nistin, die an zwei Orten aufwuchs und auch als Erwachsene noch immer nach einer Heimat sucht, mit feinen      Strichen sehr konturiert.

 

Als Kind im Grundschulalter kam Selene Mariani Anfang der 2000er nach Dresden. So auch die Ich-Erzählerin Ellis, die nach der Trennung ihrer Eltern mit ihrer Mutter, einer Deutschen, Italien den Rücken kehrt. Ihre Mutter hatte sich in der italienischen Stadt, in der Familie ihres Mannes, niemals heimisch gefühlt.

 

"Ich gehörte nie richtig dazu. Selbst als ich gelernt hatte, wie sie zu klingen, erkannten sie mich. Es war, als hätte ich ein nur für sie sichtbares Zeichen auf der Stirn. ... Dir geht es doch sicher ähnlich", sagt die Mutter zu Ellis.

 

Sie sprachen schon immer wenig miteinander, Mutter und Tochter.

Auch dass Ellis als Kind in der Schule täglich gequält wurde, erfährt sie erst, als Ellis erwachsen ist.

Die beste Freundin ihrer Tochter, Grace, kennt sie, seitdem die Mädchen sich angefreundet haben. Sie wohnt nebenan, mit ihrer ebenfalls alleinerziehenden Mutter.

 

Grace war, als sie 2004 in Ellis´ Klasse kam, ihre Rettung.

Plötzlich jemand an ihrer Seite, jemand, der sie in Schutz nahm. Genauso plötzlich die Enttäuschung, als Grace sich auf die Seite der anderen schlug. Doch immer wieder kam sie zurück zu Ellis, es ist eine schwierige Freundschaft.

Die der Kinder und auch der beiden jungen Frauen.

 

Der Roman ist aus zwei Strängen komponiert. Der eine ist mit einer Ortsangabe und Jahreszahl überschrieben, Italien 2002 beginnend, es ist der letzte Tag dort, wo Ellis aufge-wachsen ist. Dann Deutschland, beginnend 2002, Szenen in der Schule, von zu Hause, mit Mutter oder Ellis.

Diese Sequenzen setzten sich fort bis 2011. Dann bricht der Kontakt der Mädchen ab.

 

2019 kommt es zu einer Wiederbegegnung, in diesem Jahr reisen Ellis und Grace zusammen nach Italien, sie wohnen bei Ellis Großeltern. Für ein paar Tage trifft Ellis dort auch ihren Vater, der mit seiner neuen Familie zu Besuch kommt.

 

Die 2019 spielenden Szenen sind durchnummeriert, Ellis erzählt von Filo und nonno, von ihrer Kindergartenfreundin Chiara und deren Freund Mars, in den sich Grace verliebt.

 

Grace ist sowieso immer verliebt, ganz im Gegensatz zu Ellis, die sehr schüchtern ist, in sich keinen Grund findet, auf dem sie stehen kann. Die kaum spricht, nicht gern zu Partys geht.

 

Sie fragt sich, "Was wäre passiert, hätte ich in Deutschland jemanden gehabt wie sie?" Sie, das ist die Großmutter, die Theaterstücke inszeniert und dem schüchternsten Mädchen die Hauptrolle gegeben hat, damit sie lernt, aus sich heraus zu gehen, den Wortstau in sich aufzulösen.

 

Selene Mariani thematisiert die Zerrissenheit zwischen

zwei Heimaten und zwei Sprachen.

Außerdem die Schwierigkeit, zu einem späteren Zeitpunkt an etwas Unterbrochenes anzuknüpfen.

Sie thematisiert das Ausgegrenzt-Werden, das stumme Leiden eines Kindes, das auf diese Weise lernt, dass es nur einen Weg gibt, und das ist der der Anpassung. Immer lachen, wenn die Stärkste der Klasse lacht, zum Beispiel.

 

In den Coming-of-Age-Roman verwebt sie auch die Anziehungskräfte, die über reine Freundschaft hinausgehen und die dem Roman eine weitere Dimension geben.

 

Einige Zeit nach der Rückkehr aus Italien machen Ellis und Grace einen abendlichen Spaziergang am Fluss entlang:

 

Kurz bevor ich den ersten Schritt mache, sage ich:

"Ich hätte dir das schon lange..." 

Sie schaut ich jetzt an, mein Gesicht im Halbdunkel, ich weiß nicht, wie viel sie sieht, ihre Taschenlampe hängt an ihrem Zeigefinger und beleuchtet wackelnd den frostigen Boden. 

"Warum erst jetzt", fragt sie.  Ihre Stimme klingt seltsam, wie ein Faden, der so langgezogen wird, dass er fast zerreißt. 

"Ich hab es erst jetzt richtig verstanden." 

Sie nickt wieder, dieses komische Dauernicken, am liebsten würde ich ihren Kopf festhalten, ihre Stimme wieder lockern. Ich höre plötzlich, dass der Wind durch die Äste pfeift, sehe, dass sich die Schollen auf dem Fluss bewegen.

Als ich mich wieder zu Grace drehe, ist sie doch losgelaufen, ganz langsam. "Okay", sagt sie. Sie reibt sich über die Stirn, die Lippen, kratzt sich unter ihrer Mütze, richtet ihren Jackenkragen, alles, ohne mich anzusehen.

"Du weißt aber, dass ich...", sagt Grace.

Eine Weile laufen wir schweigend, als wäre alles gesagt.

"Ja", sage ich und schaue weiter auf die Eisschollen.

 

Der Roman Selene Marianis ist spröde und zauberhaft schwebend zugleich. 

Man könnte die mit Zeitangaben versehenen Szenen hinter-einander weg lesen und hätte die Geschichte der Kinder und Jugendlichen.

Die Teile, die sich auf die drei Wochen in Italien und die

Zeit danach konzentrieren, bilden ebenfalls eine eigene Geschichte. 

Die Protagonistin wird jedoch durch die Verzahnung der verschiedenen Phasen und Entwicklungen zu einer komplexen Figur, in die die Autorin viel Herzblut gelegt hat.

Sie verzichtet auf jegliche Sentimentalität oder Pathos, der Roman ist auf das Wesentliche konzentriert und erhält dadurch seine bestechende Dichte.

 

Ein gelungenes Debüt, eine junge Stimme in der Literatur, von der noch viel zu hören sein dürfte!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Selene Mariani: Ellis

Wallstein Verlag, 2022, 152 Seiten