Nadine Olonetzky - Belichtungen

Dies ist das persönlichste Buch

der Autorin, Herausgeberin und Lektorin Nadine Olonetzky, geboren 1962 in Zürich.

Es versammelt 55 Gedichte und 

25 ganz besondere Bilder: über 20 Jahre hinweg legte die Dichterin Fundstücke auf Papier und überließ diese Blätter der Sonne. Das Papier vergilbte, die Gegenstände blieben als hellere Stellen sichtbar.

 

So entstanden Schattenrisse  - Gegenstände wurden transformiert in Abbilder, die die Zeit in sich speichern. 

Das Buch kann als ein Zeit- und Lichtexperiment bezeichnet werden: die Bilder entstanden durch das Zusammenwirken beider, tragen beide in sich und bewahren sie.

 

Die Gedichte nehmen Fäden aus den Abbildungen auf, spinnen und weben sie weiter - gleich das erste Gedicht stellt die Frage nach dem "Augenblick":

 

"Das Jetzt, wenn es sichtbar wird, ist immer schon

vergangen. Klappen die Lider zu, wird das, was gerade

war, ein Bild mehr im Meer der Erinnerungen. Nur

weil sie vergehen, kann man die Augenblicke sehen."

 

Die Lichtbilder sind sichtbar gewordene Augenblicke, tausende Augenblicke und Sonnenstrahlen verwandeln ein weißes Blatt Papier in einen Speicher - des Vergangenen?

 

Behutsam umkreist Nadine Olonetzky die Themen Zeit, Erinnerungen, Erscheinungsformen der Wirklichkeit - als Schatten, vom Wind vorübergeweht, vom Meer an den Sand gespült, als Duft in Bettlaken hängend, auf ein Foto gebannt - wo finden sie alle einen Platz?

 

Wie Bilder sich im Lauf der Zeit verändern, so changieren auch unsere Erinnerungen, die so zuverlässig sind wie der Lauf eines natürlichen Flusses - wie finden sie im Inneren eines Menschen zusammen?

 

Die Dichterin legt ihren Texten oft Naturerscheinungen zugrunde, vergisst nicht die Welt unter unseren Füßen,

fragt sich, ob unsere Augen wohl manchmal miteinander "tuscheln" über das, was sie jeweils sehen - ein sehr liebenswerter, kindlicher Gedanke, die Hände können sich ja auch austauschen. Sie denkt an eine Frau, die ihr Leben lang am selben Ort wohnt und sich plötzlich fragt, wo sie ist.

Was hat sich ereignet?

 

Gerne beginnt sie einen Gedanken am Ende einer Zeile, nach zwei oder drei Worten schreitet sie fort in die nächste Zeile, so schafft sie einen kurzen Augenblick des Stockens, des Stolperns beim lesen, ein kurzes Anhalten des Atems, der weiterströmt mit den Worten, die nun wieder fließen - auf diese Weise nimmt die Dichterin den Leser mit hinein in ihre Texte, lässt ihn teilhaben an ihren Überlegungen, Erinner-ungen, Erkenntnissen - und (unbeantworteten) Fragen.

 

In den Bildern mag man Wolken, Flammen, Kreise, Blumen, Ringe, die Klammer eines Ordners sehen, oder Einladungen, die Gedanken schweifen zu lassen, die Verbindungslinien

zu suchen/sehen, die Mehrdeutigkeit zuzulassen, das Un-scharfe, Unpräzise.

 

Das Buch fängt das Licht und die Zeit ein und schenkt sie dem Leser.

Es schafft eine Insel der Langsamkeit, der Reife, es reflektiert die Geduld, die es braucht, die Belichtungsbilder entstehen, Licht und Zeit ihre Arbeit tun zu lassen, ohne einzugreifen, ohne zu manipulieren.

 

Der Kommode Verlag hat ein feines, ungewöhnliches, mit großer Sorgfalt ediertes Buch daraus gemacht. Griffiges Papier, Fadenheftung, der Umschlag ist doppelt gelegt, am Buchrücken nur zur Hälfte befestigt - das Buch lässt damit einen Blick auf oder in seine Physis zu, das ist schön.

Es ist eine schöne Erfahrung, dieses Buch in den Händen zu halten und darin zu lesen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nadine Olonetzky: Belichtungen

Gestaltet von der Autorin in Zusammenarbeit mit 

Claudio Barandun und Megi Zumstein

Kommode Verlag, 2018, 176 Seiten