Lucia Puenzo - Die man nicht sieht

Dieser Roman ist super spannend,

tempo- und bildreich erzählt, er spielt in Once, Argentinien, und an der uru-guayanischen Küste, er zeigt einen Ausschnitt der Lebenswelt von drei Straßenkindern und gibt einen tiefen Blick in die Welt derer, die glauben,

sich mit Mauern und Waffen vor eben dieser Welt schützen zu müssen.

 

 

Ismael, sechzehn, Enana, fünfzehn, und Enanas Bruder Ajo, sechs, sind ein eingespieltes Team, eines der besten, die von Guida in Once auf Diebestour geschickt werden.

Er sagt ihnen, wann und wo sie einsteigen sollen, sie wissen, was sie mitnehmen müssen, sie sind trainiert, wie sie reagieren müssen, wenn etwas schiefgeht, und sie erhalten einen meist zu kleinen Anteil an der Beute.

Sie leben mit einigen anderen Jugendlichen in einem alten Eisenbahnwaggon, sind immer hungrig und wissen zu genau, dass sich ihre Träume kaum verwirklichen lassen werden.

 

Die Kinder ahnen nicht, was auf sie zukommt, als Giuda ihnen vorschlägt, nach Urugay zu fahren, um dort zu arbeiten. Dreitausend Pesos soll jedes Kind nach der Rückkehr erhalten, dass Giuda dreißigtausend für jeden erhält, den er losschickt, wissen sie nicht.

Guida ist der erste in einer langen Reihe derer, die Geld mit den Kindern verdienen, die ihr Leben aufs Spiel setzen und am allerwenigsten dafür bekommen.

 

Die Überfahrt ist illegal, gut organisiert und ein Alptraum.

Sie überleben alle, werden im Empfang genommen von einem Mann, in dessen Augen Enana sofort die Brutalität und die Gier nach ihr sieht, zur sogenannten "Tante" gefahren, kurz verköstigt, in einen Schuppen zum schlafen geschickt und drei Stunden später abgeholt.

 

Sie werden an einem Zaun abgesetzt, der ein riesiges Gelände umfasst. Auf diesem stehen neuen Villen, die in sechs Tagen auszuräumen sind. Ausgestattet mit einer Karte und einem Rucksack voll Essen lässt man die Kinder mitten im Nirgendwo zurück. Einzige Kontaktmöglichkeit: ein Handy, dessen Akku so lange reicht, um nach jedem Einbruch die Nachricht "erledigt" absenden zu können.

Schnell ist ihnen klar, dass das alles nicht funktionieren kann. 

 

Sie sind erfahren genug, um ebenfalls zu wissen, dass sie beobachtet werden und ihren Auftrag ausführen müssen, es zumindest versuchen. Alles andere wäre das sofortige Ende.

 

Das erste Haus klappt einigermaßen, sie können mit der Beute entkommen und auch einen kleinen Teil davon abzweigen, bevor sie den Kontaktmann am Strand treffen.

Doch: "Auftraggeber zu übervorteilen war der schlimmste Verrat."

Dieser Verrat kommt einer Sünde gleich: "Das Gefühl, immer unter Beobachtung zu stehen, nahmen sie in geradezu christlicher Demut hin, wenn der liebe Gott in ihrer Welt auch ein Wachmann vom Sicherheitsdienst war."

Diese Wachmänner spielen eine wichtige Rolle in der Welt der Kinder - und der Reichen.

 

Eine große Stärke des Romans ist, dass die Protagonisten

so ahnungslos sind wie der Leser. Sie erhalten kurze Anweisungen von den Drahtziehern, werden wie Mario-netten in eine Situation gestellt, mit der sie dann allerdings alleine zurecht kommen müssen. Sei es mit Alarmanlagen, Hunden, Schlangen, oder der Begegnung mit jenem Mann, der sie vom Hafen abgeholt hatte, und der nun plötzlich als Wachmann in Haus 1 auftaucht.

So kommt es immer wieder zu überraschenden Wendungen und Entwicklungen, es wird allmählich erst klar, warum die Kinder diesen Auftrag erhalten haben - es geht um viel mehr als den Diebstahl von ein paar Schmuckstücken oder Tablets.

 

Es geht um die Skrupellosigkeit der Reichen und um ihre Angst etwas zu verlieren: nicht ihren Besitz, der ist zu immens, aber ihre Sicherheit, das Gefühl, alles richtig zu machen. 

 

Ismael erkennt, dass es nur eine Rettung gebe kann: abhauen.

"Ihr halbes Leben hatten sie für solche Typen gearbeitet, und sie waren alle gleich: den Gehorsam zu verweigern war Selbstmord. Loyalität um jeden Preis war das Erste, was sie einem beibrachten. Dass er bereit war, ihre Befehle zu missachten, zumal in einem Gelände, das ihnen nicht vertraut war, und ohne dass sie Hilfe von draußen hatten ... das lag an seiner Angst. Etwas sagte ihm, dass die eigentliche Arbeit, für die sie hier drinnen vorgesehen waren, noch gar nicht begonnen hatte."

Und ein wenig später: "Seine Gedanken kreisten fieberhaft darum, dass man sie offenbar verheizen wollte. Im Grunde waren sie ja von klein auf nie etwas anderes gewesen als Kanonenfutter. Aber dass man sie nun trennen wollte und die beiden Schwächsten die schwierigste Arbeit erledigen sollten, das machte ihm mehr Angst als alles andere."

 

Ismaels Angst wird sich in Realität verwandeln.

Doch keiner sieht es, wenn ein Unsichtbarer verschwindet.

 

 

Lucía Puenzo hat ein Sozialdrama konstruiert, das sich wie ein Thriller liest. Sie zeigt die Zerstörung von Menschen-leben zum Erhalt der Macht und des status quo, sie führt die Auswüchse des Kapitalismus an Menschen aus, die von vorn herein keine Chance haben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lucía Puenzo: Die man nicht sieht

Übersetzt von Anja Lutter

Wagenbach Quartbuch, 2018, 208 Seiten

(Originalausgabe 2018)